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Der ‚progressive’ oder ‚spiralförmige’ Modus der bedingten Entstehung

Beim Studium der frühesten überlieferten Schriften des Buddhismus wird rasch deutlich, dass der Weg zur Erleuchtung ebenso dem Gesetz von pratitya samutpada unterliegt wie der im Lebensrad dargestellte Kreislauf des Leidens und der Wiedergeburten. Allerdings wird diese Tatsache nur an wenigen Stellen der Schriften direkt ausgesprochen. Dadurch kann man den Eindruck gewinnen, als gelte das Gesetz der bedingten Entstehung nur für das, was Buddhisten Samsara nennen. Ein Text im Samyutta Nikaya (SN XII.23) — das Upanisa Sutta — zeigt jedoch unmissverständlich und direkt, wie der Prozess der Befreiung von Unwissenheit bis hin zur Erleuchtung bruchlos an den Zyklus samsarischen Lebens und Leidens anknüpft. Das Upanisa Sutta zeigt, dass dieser Prozess durch eine Serie zunehmend glücklicher, klarer und gesammelter Erfahrungen zu einer direkten Schauung der Wirklichkeit führt, in der die bedingende Macht des reaktiven Geistes ein für alle Mal gebrochen wird. Diese Schauung erweist sich als ein ‚Erwachen’, das zwar sozusagen noch diesseits von vollkommener Erleuchtung liegt, aber nicht mehr verloren gehen kann. Von dieser Erfahrung an ist Erleuchtung garantiert, wenn es auch noch eine ganze Weile lang dauern mag, bis jene höchste und vollkommene Freiheit von allen selbstbezogenen Täuschungen und Neigungen gewonnen ist, die man nirvana nennt. Eigenartiger Weise wurde dieses Sutta in der buddhistischen Geschichte nur wenig beachtet, und erst seit einigen Jahrzehnten gibt es einige wichtige Studien der spiralförmig vorwärts führenden Bewegungsrichtung des bedingten Entstehens, die zugleich praktische Relevanz haben. Für eine ausführliche Beschreibung der im Upanisa Sutta be-schriebenen ‘progressiven’ bedingenden Faktoren siehe Progressive Nidanas[[führt zu ‘Progressive Nidanas’ — noch zu bearbeiten]].

Der spiralförmige Modus der Konditionalität beschreibt das, was wir in westlichen Sprachen heute oft ‚spirituelle Entwicklung’, ‚spirituelles Wachstum’ oder ‚spirituelle Evolution’ nennen. Spiritueller Fortschritt lässt sich hiernach als eine Serie psycho-physischer Erfahrungen verstehen, die einander fortschreitend steigern. (Manche Leser werden eine solche analytische Darstellung als zu trocken oder intellektuell empfinden. Es gibt auch ganz andere, teilweise sehr viel bildhaftere und emotionalere Arten, die Wege zu Erleuchtung beschreiben.) Anders als im zyklischen Modus verstärkt und verfeinert hierbei der jeweils folgende Faktor die Wirkung des vorangehenden. So führt unsere Freude, den Weg zur Erleuchtung entdeckt zu haben, zu einer heiteren Gelassenheit, die aus dem Wissen gespeist wird, dass unsere Lebensenergien sich nun ganz entfalten können und wir dabei zugleich alle Altlasten aus der Vergangenheit ‚entsorgen’ beziehungsweise läutern können. Diese Gelassenheit bringt ihrerseits eine gesteigerte geistig-körperliche Wonne hervor, die — anders als wir es bisher gewohnt waren — weder zu Greifen und Anhaften führt, noch irgendwann in Unzufriedenheit und Ernüchterung umschlägt. Stattdessen wird sie immer kraftvoller, beruhigt sich dann auf eine sehr harmonische Weise und verfeinert oder ‚vergeistigt’ sich in eine gleichsam überirdische Seligkeit, die mit Worten kaum beschreibbar ist.

An das anknüpfend, was im Abschnitt über den zyklischen Modus der bedingten Entstehung gesagt wurde, kann man diesen Prozess auch so beschreiben: Spirituelle Entwicklung heißt aufzuhören, auf reaktive Weise zu leben; es bedeutet zu lernen, schöpferisch und frei zu sein. Natürlich ist das überhaupt nicht leicht. Unter anderem braucht man dazu ein klares Gewahrsein der beiden Bewegungsrichtungen von pratitya samutpada. Es genügt nicht, diese bloß theoretisch zu verstehen, sondern unser Verständnis muss uns gewissermaßen in Fleisch und Blut übergehen, so dass alle Entscheidungen von Moment zu Moment im Wissen um die beiden grundlegenden Handlungsalternativen — die zyklisch-leidvolle und die progressiv-befreiende — erfolgen. Diese Alternativen stellen sich auch nicht nur ein- oder zweimal im Leben, sondern tagtäglich und von Minute zu Minute. In fast jeder Minute können wir nicht nur, sondern wir müssen wählen, ob wir reflexhaft reagieren oder bewusst und schöpferisch antworten.

Ein Beispiel: Jemand kritisiert mich. Gleichgültig, ob die Kritik zutrifft oder nicht, ob sie gerecht oder ungerecht ist, freundlich oder hämisch, helfend oder herabsetzend — es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie ich sie aufnehmen und darauf antworten kann. Wenn ich mich ärgere oder verletzt fühle, werde ich vielleicht re-agieren, mit einer Gegenkritik erwidern oder mich gekränkt zurückziehen. Vielleicht auch werden mir meine Gefühle bewusst und ich spreche in einer persönlichen Weise ohne anzuklagen aus, dass mir diese Kritik weh tut, dass ich sie nicht oder nur teilweise verstehe oder auch dass ich sie unangemessen finde und ihr nicht zustimme. Je weniger ich mir meiner Gefühle und Gedanken gewahr bin, desto eher werde ich dazu neigen zu re-agieren, meine Kritiker anzugreifen und ihnen die Verantwortung zuzuschieben, dass sie mir das Leben schwer machen. Je mehr ich mir aber der Empfindungen und Gedanken, die durch die Kritik ausgelöst wurden, gewahr bin und je größer der geistige Erfahrungsraum ist, in dem ich mich bewege, desto leichter kann ich eine schöpferische Antwort finden. Dann übernehme ich die Verantwortung für das, was in mir und durch mich geschieht und ich werde vielleicht nachfragen, was eigentlich genau passiert ist und weshalb der andere Mensch diese Kritik vorgebracht hat. Vielleicht erkenne ich dabei eigene Versäumnisse oder mir wird bewusst, dass der andere gerade sehr ärgerlich ist und seine Vorhaltungen eigentlich nur wenig mit meinem Verhalten zu tun haben. Wenn ich mir meiner selbst gewahr bin, ist es viel leichter, dem anderen Menschen mit Verständnis und Mitgefühl zu begegnen. Natürlich spricht nichts dagegen, haltlose Kritik gelassen zurück zu weisen. Auch dabei kann und sollte ich aber versuchen, den anderen Menschen zu verstehen oder zumindest Nachsicht zu üben. Wenn ich reflexartig und irritiert re-agiere, wird es mir (vielleicht, nachdem der kurze, belebende ‚Kick’ verpufft ist, den ich bei meinem zornigen Gegenschlag empfinde und genieße) nach einer Weile wahrscheinlich eher schlecht gehen. Dann beginnt der sattsam bekannte innere Dialog des Grolls und Nachtragens, vielleicht auch der Selbstvorwürfe hinsichtlich meiner allzu heftigen Reaktion ... und auf diese Weise trainiere ich mich nur in weiterer Unfreundlichkeit, einem festen Selbstbild und in der Weigerung, die Realität so anzunehmen, wie sie ist. Ich halte fest an der Vergangenheit und vielleicht auch an Rachefantasien für die Zukunft. Je häufiger ich auf solche Weise re-agiere, desto mehr fleischen sich die entsprechenden emotionalen Tendenzen ein und ich werde gerade zu einer ‚Inkarnation’ untauglicher Geisteshaltungen. Mein Leben wird zur Hölle und ich mache anderen das Leben zur Hölle. Antworte ich hingegen mit Gewahrsein und schöpferisch, indem ich alle Empfindungen und Emotionen aufmerksam erlebe, dabei volle Verantwortung für sie übernehme, sie erforsche und im Kontext des Geschehen zu verstehen suche, dann wird sich mit der Zeit alles Begehren, Ablehnen oder Festhalten in einen größeren Raum lichten Gewahrseins lösen, und ich habe in spiritueller Hinsicht wieder etwas gelernt. Das ist der Weg der Befreiung.

Der Spiralmodus des bedingten Entstehens führt unendlich weit. Der Buddha hatte erkannt, dass wir dem Kreislauf von Geburt und Tod und damit immer neuem Leiden unterworfen sind, doch er sah auch eine Alternative dazu: den Spiralpfad der spirituellen Entwicklung und Befreiung. Dieser Pfad führt zum ‚Tor der Todlosigkeit’ oder an einen ‚Punkt’, wo es den Gegensatz von Leben und Tod nicht mehr gibt.