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Siddharthas Weg zur Erleuchtung

Es wird oft gesagt, Siddhartha Gautama, der zum Buddha wurde, sei in Indien geboren. Vor hundert Jahren hätte diese Aussage noch gestimmt. Aufgrund politischer Veränderungen müssen wir heute aber sagen, dass sein Geburtsort im Süden Nepals liegt. Er gehörte dem Schakya -Stamm an, die schon seit mehreren Jahrhunderten am Fuße des Himalajas siedelten. Auch trifft die übliche Darstellung nicht ganz zu, dass sein Vater, Suddhodana Gautama, der König dieses Stamms gewesen sei. Er trug zwar zur Zeit von Siddharthas Geburt zweifellos den Titel raja (wörtlich ‚König‘), doch heute würde man ihn wahrscheinlich eher als Präsidenten bezeichnen. Wie auch andere kleine Stämme im damaligen Nordosten Indiens, hatten sich die Schakyas eine halb-republikanische Regierungsform gegeben. Der jeweilige Führer wurde für eine Amtszeit von zwölf Jahren von der Ratsversammlung gewählt. Gegen Lebensende des Buddha wurden diese Kleinstaaten vom expandierenden Magadha-Reich verschlungen. In seinen ersten Lebensjahren aber erlebten die meisten von ihnen eine Blütezeit. (Um die alten Berichte nicht ständig korrigieren zu müssen, werden wir im folgenden dennoch gelegentlich von Suddhodana als ‚König‘ und vom jungen Siddhartha als ‚Prinzen‘ sprechen.)

 

Mayadevi, Siddharthas Mutter, war die Tochter des Oberhaupts der Kolijer, eines Nachbarstamms. Wie es auch heute noch in vielen Teilen Indiens der Brauch ist, sollte auch damals das erste Kind im Elternhaus der Mutter das Licht der Welt erblicken. Als Mayadevi spürte, dass die Zeit der Niederkunft nahte, verließ sie daher Kapilavastu, die Hauptstadt des Schakya-Stamms, um sich – soweit wir wissen – in einer Sänfte in Richtung ihrer Vaterstadt tragen zu lassen. Doch schon auf halbem Weg setzten die Geburtswehen ein. In der Nähe des Dorfes Lumbini kamen sie zu einem Hain von sala-Bäumen. Dort verließ sie die Sänfte und gebar den zukünftigen Buddha. Kurz darauf starb sie – der Überlieferung zufolge nach sieben Tagen.

 

Der Knabe Siddhartha wurde von seiner Tante mütterlicherseits aufgezogen, Mahaprajapati Gautami, die zugleich Suddhodanas Zweitfrau war. Über seine Kindheit ist eigentlich kaum mehr zu sagen – immerhin liegt sie zweitausendfünfhundert Jahre zurück. Ein einzelnes, vom Buddha später selbst verbürgtes Ereignis, sticht aber hervor. Dies ist ein Erlebnis, das er mit etwa fünf oder sechs Jahren hatte, als er im Frühling der jährlichen rituellen Pflügung der Felder beiwohnte. Überall in den alten Agrarkulturen war die erste Aussaat im Frühjahr ein Ereignis mit magischer und mythischer Bedeutung. Es gehörte zu den Pflichten von Königen oder Häuptlingen, die erste Pflügung selbst vorzunehmen. So hielten es die Kaiser im alten China, und bis vor kurzem eröffnete auch der Kaiser von Japan noch alljährlich die Pflügezeit. Siddharthas Vater kam ebenfalls diese Aufgabe zu. In späteren Schilderungen heißt es, er habe dazu einen goldenen Pflug verwendet, der von einem schönen weißen Ochsen gezogen wurde. Das mag so gewesen sein oder auch nicht. Ungeachtet der genauen Beschaffenheit des Werkzeugs können wir aber mit Bestimmtheit sagen, dass Siddharthas Vater diese Zeremonie vollzog und dass der kleine Siddhartha zusah.

 

Man hatte den Jungen an eine Böschung in den Schatten einer jambu, eines Rosenapfelbaums, gesetzt. Dort erlebte er etwas, das man heutzutage vielleicht als spontane mystische Erfahrung bezeichnen würde. Der Buddha beschrieb viele Jahre später im Kreis seiner Schüler, wie er unter dem Rosenapfelbaum eine Art überbewussten Zustands erlebte, ein sogenanntes dhyana. Er war so sehr in diese innere Versenkung vertieft, dass er das Pflügen gar nicht mehr bemerkte und sich noch immer in diesem Zustand befand, als man ihn nach Hause bringen wollte.

 

An dieser Stelle fließt in die Geschichte eine bemerkenswerte legendäre Einzelheit ein. Es heißt, dass sich während der ganzen Pflügungszeremonie, die mittags begonnen hatte und bis in den Abend dauerte, der Schatten des Rosenapfelbaums um kein Stück bewegt habe. Würden wir diese Aussage wörtlich nehmen, dann müssten wir hier von einem Wunder sprechen. Die Geschichte unterstellt ja offensichtlich, dass die Sonne stehen geblieben war. Vielleicht aber sagt eine symbolische Deutung mehr. So gesehen veranschaulicht die wundersame Begebenheit des unverrückten Schattens, dass für den jungen Siddhartha die Zeit stillgestanden hatte.

 

Wir werden noch sehen, dass diese Erfahrung – oder vielmehr die Erinnerung daran – später die Richtung von Siddharthas spirituellem Weg entscheidend beeinflusste. Vorläufig aber war die Zeit für weitere mystische Erfahrungen noch nicht gekommen. Siddhartha und sein Stamm gehörten den kschatriyas, der Kriegerkaste, an und entsprechend erzog man auch ihn als Krieger. In einen kschatriya-Stamm geboren zu sein hieß ganz buchstäblich als Krieger geboren zu sein. Genauso wurden andere als Brahmanen (Priester), als vaischyas (Händler und Bauern) oder als schudras (Arbeiter) geboren. Das ist heute noch so in Indien, nur sind die vier Hauptkasten mittlerweile in etwa zweitausend Unterkasten unterteilt.

 

Der künftige Buddha verbrachte somit die prägenden Jahre seiner Kindheit und Jugend nicht etwa mit einem intensiven Studium von Philosophie und kultischen Verrichtungen, sondern auf dem Turnierplatz, wo er außer den Künsten des Bogenschießens, Speerwurfs und Schwertkampfs auch lernte, wie man einen Streitwagen lenkt. Aufgrund seiner patrizischen Herkunft erhielt er wahrscheinlich die beste Kriegerausbildung, die es damals gab. Daneben weihte man ihn sicherlich in die Sitten und Bräuche, den Glauben und Aberglauben seines Stammes ein, lehrte ihn etwas Geschichte und Ahnenforschung. Das alles vollzog sich natürlich in mündlichen Unterweisungen durch die Stammesältesten. Wir wissen nicht, ob er je lesen und schreiben lernte. Am besten stellt man ihn sich als einen Menschen vor, der gut erzogen, kultiviert und gebildet war, ohne jemals so etwas wie eine Schule besucht zu haben. Er führte insgesamt ein recht angenehmes Leben: Er war reich, hatte keine besonderen Verpflichtungen und wurde von seinem Vater geradezu abgöttisch geliebt.

 

Doch ganz so glatt und ungestört wie es hiernach scheinen mag, wuchs Siddhartha nicht heran. Kurz nach seiner Geburt hatte der Vater ihn zu dem Weisen Asita, einem Rischi, gebracht, um sein Horoskop stellen zu lassen. So etwas war damals in Indien gang und gäbe und ist es auch heute noch. Selbst die verwestlichte so genannte Elite lässt für ihre Kinder fast immer ein Horoskop stellen – besonders wenn es ein Sohn ist. Die Eltern wollen wissen, was ihre Kinder erwartet, welchen Lebensweg sie einschlagen werden, und deshalb befragen sie einen Astrologen. Auf welche Weise Siddhartha das Horoskop gestellt wurde, wissen wir nicht. Es heißt nur, er wurde in Asitas Arme gelegt, woraufhin der Rischi seine Berechnungen angestellt habe. Er sagte dem Kind eine außergewöhnliche Zukunft voraus: Siddhartha werde entweder zu einem großen kschatriya, einem großen Krieger und Herrscher heranwachsen oder aber alles aufgeben und ein großer spiritueller Meister werden.

 

Suddhodana war von dieser Vorhersage allerdings zutiefst beunruhigt. Die Vorstellung, sein Sohn könnte ein berühmter Eroberer werden, gefiel ihm – er hörte das sogar sehr gerne. Den Gedanken aber, der Knabe könnte es sich in den Kopf setzen, der Welt den Rücken zu kehren, um seine Talente dem spirituellen Streben zu weihen, fand er entsetzlich. Je älter Siddhartha wurde, desto größer wurden Suddhodanas Befürchtungen. Er dachte: „Mein Sohn soll so werden wie ich. Er soll mutig und stark sein und unser Herrschaftsgebiet vergrößern, ja, soll er doch – wie der Rischi sagt – ein großer Herrscher werden, der vielleicht sogar ganz Indien erobert. Ich werde es zu verhindern wissen, dass er seine Zeit mit religiösem Unsinn vergeudet. Wir müssen ihn vom Grübeln abhalten, auch von den Schattenseiten des Lebens braucht er nichts zu erfahren – zumindest jetzt noch nicht. Erst einmal soll er sein Herz und Streben ganz auf die weltlichen Genüsse ausrichten.“

 

So war Suddhodana fest entschlossen, es dem jungen Prinzen an nichts fehlen zu lassen. Er sollte das Leben genießen und in den raffiniertesten, süßesten Sinnenfreuden schwelgen. Später, in einer seiner autobiographischen Lehrreden erzählte der Buddha, dass sein Vater ihm drei wunderschöne Villen eingerichtet hatte, für jede Jahreszeit eine. Weder Kälte, Hitze noch die Regenzeit sollten ihm irgendwelche Unbill bereiten. Er erzählte auch, dass bezaubernde Tänzerinnen und liebreizende Sängerinnen diese Häuser bevölkerten, mit denen er Tag und Nacht mit Trinken, Gesang und Tanz verbrachte. Ein Genuss löste den anderen ab. Für einen Moment der Besinnung oder gar der Traurigkeit blieb da keine Zeit.

 

Als er sechzehn Jahre alt war, verheiratete man ihn mit seiner Kusine Yaschodhara. Natürlich wurde diese Ehe von den Eltern arrangiert. Noch immer werden in Indien die meisten Ehen von den Familien der Braut und des Bräutigams vereinbart und nicht etwa von den jungen Leuten selbst. Siddhartha war damit ziemlich zufrieden und lebte etliche Jahre so. Doch mit der Zeit scheint er ein zunehmendes Unbehagen an diesem Leben empfunden zu haben. In seinem Innersten trieb ihn eine gewisse Unruhe. Als ihm die Nachricht überbracht wurde, dass seine Frau einen Sohn geboren hatte, reagierte er nicht gerade mit Vaterstolz. Auf die Frage, wie der Knabe heißen solle, sagte er: „Eine Fessel wurde mir geboren. Nennt ihn Rahula“, denn das bedeutet der Name Rahula, ‚Fessel‘. Es war, als durchschaute er allmählich die Absichten seines Vaters. Ihm wurde klar, dass Suddhodana ihn mit Vergnügungen, Besitz und Macht, mit Familie, Frau und Kind ans Haus zu ketten versuchte. Er erkannte, was vor sich ging. Von da an begann er die Übung der Kriegskünste zu vernachlässigen und verlor jedes Interesse an den Lustbarkeiten und Zerstreuungen, die man ihm zu Hause bot. Das häusliche Leben war für ihn öde und leer geworden.

 

Immer häufiger zog er sich für einige Zeit zurück, um nachzudenken, bis er schließlich offenbar eine Art ‚spiritueller Krise‘ durchmachte (auch wenn die frühen Schriften das natürlich mit anderen Worten umschreiben). Buddhisten in aller Welt kennen diesen psychologischen und spirituellen Wendepunkt im Leben Siddharthas als die dramatische Erzählung von den Vier Ausfahrten – wörtlich, den Vier Anblicken. Man weiß nicht mit Sicherheit, ob es sich hier um eine legendenhafte Ausschmückung handelt, um das nach außen projizierte Ergebnis einer intensiven Selbstergründung oder ob sich das Ganze tatsächlich in etwa so zugetragen hat, wie die Überlieferung es darstellt. Wie dem auch sei, die Vier Ausfahrten vermitteln einige Grundlehren des Buddhismus auf sehr kraftvolle Weise und beleuchten zugleich die Anfänge der spirituellen Entwicklung des Buddha.

 

Die Geschichte erzählt, Siddhartha habe eines schönen Morgens seinen Wagenlenker angewiesen, zu einer Ausfahrt die Pferde einzuspannen: „Ich will mal sehen, was in der Welt so passiert und wie die Leute leben.“ Der Wagenlenker schüttelte den Kopf: „Ich glaube nicht, dass wir das dürfen, das kann mich meine Stelle kosten. Ihr wisst doch selbst, dass der König gesagt hat, ihr sollt nicht hinaus unters Volk gehen.“ Aber der junge Prinz bestand auf seinem Vorhaben: „Mach dir keine Sorgen. Ich übernehme die Verantwortung. Wenn der König etwas dagegen hat, soll er mir das selbst sagen. Komm, gehen wir.“ Und so trieben sie die Pferde an und waren auf und davon. Sie fuhren in den Ort hinaus, und Siddhartha sah, dass das Leben und Treiben dort eigentlich nicht anders war, als er erwartet hatte – bis sein Blick auf einen sehr alten Mann fiel.

 

Die überlieferten Texte beschreiben das Aussehen des alten Mannes recht anschaulich – er war schwach, mit welker Haut, krummem Rücken, und seine standen Knochen hervor. Auf einen Stock gestützt taperte er den Weg entlang. Sein Bart war lang und weiß, seine Augen tränten. Das alles klingt für uns vielleicht ein bisschen dick aufgetragen, für indische Verhältnisse aber ist es das keineswegs. Auch heute noch sehen alte Leute dort – klimabedingt sowie auf Grund ihrer harten Lebensumstände – manchmal wirklich greisenhaft aus. Mit fünfzig oder sechzig Jahren können sie wie Hundertjährige wirken. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass Suddhodana seinen Sohn bisher angeblich von allen Schattenseiten des Lebens ferngehalten hatte, und dazu gehörte natürlich auch das Alter. Als Siddhartha nun diesen alten Mann erblickte, zeigte er daher auf ihn und fragte: „Wer, eh, … was ist das?“

 

Der Wagenlenker dachte wohl bei sich: „Nun ja, früher oder später wird er es ja doch erfahren“, und antwortete: „Das ist ein alter Mann.“ – „Aber warum sieht er so aus? Wieso ist sein Rücken so krumm? Warum stehen die Knochen hervor? Und weshalb tränen seine Augen?“ Der Wagenlenker war nicht besonders geübt darin, solchen Fragen auszuweichen, außer vielleicht bei Kindern. Er sagte bloß: „Nun, er ist eben alt.“ Doch Siddhartha gab sich damit nicht zufrieden: „Aber, wie ist er so geworden?“ – „Das passiert ganz von allein“, erklärte der Wagenlenker geduldig. „Man muss gar nichts dazu tun, um alt zu werden; man wird ganz von alleine alt. Das ist leider etwas ganz Natürliches. Jeder wird alt.“ Den jungen Prinzen schauderte: „Was? Jeder?“ Der Wagenlenker erwiderte: „Ja, sicher, jeder.“ – „Ich etwa auch? Werde auch ich einmal so werden?“ Der Wagenlenker nickte: „Euer Herr Vater, der König, wird so, die Königin, eure Frau Mutter, eure Gemahlin, ich und auch Ihr selbst – wir alle – werden einmal alt.“

 

Es heißt, dass Siddhartha von dieser Mitteilung ähnlich getroffen wurde wie ein Elefant vom Donnerschlag. Vor Schreck brach er in kalten Schweiß aus. „Was nützt es dann, jung zu sein?“, klagte er. „Was sollen all diese Vitalität und Kraft, wenn sie doch in Auszehrung und Gebrechlichkeit enden?“ Das quälte sein Herz, und er sagte nur noch: „Mir reicht’s für heute. Lass uns nach Hause fahren.“ Und während ihr Wagen klappernd zum Palast zurückfuhr, grübelte er über seine neuen Erkenntnisse nach.

 

So lautet also die Legende von der ersten Ausfahrt. Gleichgültig ob Siddhartha tatsächlich auf diese Weise zum ersten Mal einen alten Mann sah oder nicht, die tiefere Bedeutung des Geschehens kann man eigentlich gar nicht missverstehen. Vielleicht hatte er sogar schon viele alte Menschen gesehen, ohne sie wirklich wahrzunehmen. An jenem Tag aber sah er den alten Menschen so, als ob es das erste Mal gewesen wäre. Das ist etwas ganz Natürliches, das geht uns allen so. Wir sehen etwas – vielleicht sogar jeden Tag, so wie wir die Sonne auf- und untergehen sehen. Irgendwie aber sehen wir es nicht wirklich, weil wir nicht gewahr sind und nicht darüber nachdenken. Wir sehen und sehen doch nicht. Wir sind blind. Man kann jahrelang in einem Altersheim arbeiten, ohne die Tatsache des Alters auch nur ein bisschen näher an sich heran zu lassen. Wenn Sie nur ein wenig mehr Achtsamkeit und Klarheit entwickeln, werden Sie bemerken, dass Ihnen viele Dinge in einem ganz neuen Licht erscheinen, so als hätten Sie sie noch nie zuvor gesehen. Auf solche Weise erkannte nun auch Siddhartha zum ersten Mal in seinem Leben wirklich und in der Tiefe seines Herzens, dass es so etwas wie Alter gibt und dass auch seine eigene Jugend nur von kurzer Dauer sein würde.

 

Obwohl ihn diese Erkenntnis tief erschüttert hatte, fuhr er der Überlieferung nach ein paar Tage später erneut aus. Wieder begegnete ihm etwas, das er noch nie gesehen hatte. Diesmal erblickte er einen kranken Mann am Wegrand, der an einem Fieberanfall oder etwas Ähnlichem litt und sich hin- und herwälzte, ohne dass sich jemand um ihn kümmerte. Wieder bat Siddhartha den Wagenlenker um eine Erklärung: „Sag, was ist mit diesem Mann los? Warum liegt er dort am Straßenrand? Warum zuckt er so? Warum zittert und fröstelt er? Warum rollt er so wild mit den Augen? Warum sieht sein Gesicht so schrecklich aus?“ Und der Wagenlenker musste ihm sagen: „Nun, er ist krank.“ Siddhartha, der sich bis dahin offenbar immer bester Gesundheit erfreut hatte, wollte wissen: „Passiert so etwas auch anderen Menschen? Wird es auch mir widerfahren?“ Wieder war die Antwort des Wagenlenkers unmissverständlich: „Ja. Alle, Frauen wie Männer, können krank werden. Das kann jederzeit geschehen. In jedem Augenblick können wir unsere Kräfte und unsere Gesundheit einbüßen und krank werden.“ Das gab Siddhartha auf dem Heimweg zum Palast von neuem zu denken.

 

Dennoch machten sie ein paar Tage später eine weitere Ausfahrt. Diesmal begegneten sie vier Männern, die auf einer Bahre gemeinsam etwas trugen. Sie hatten die Stangen der Bahre auf die Schultern genommen. Auf dieser Tragbahre lag ein Mann, der in ein gelbes Tuch gehüllt war. Nur sein Gesicht war zu sehen. Irgendwie sah es ganz seltsam aus. Kein Muskel rührte sich. Es war ausdruckslos, wie aus Wachs, und die Augen waren geschlossen.

 

Einem solchen Anblick kann man in Indien tagtäglich begegnen. Ein indisches Begräbnis unterscheidet sich sehr von dem, was wir im Westen kennen. Wenn bei uns jemand stirbt, dann legen wir ihn in eine Kiste und räumen ihn verstohlen aus dem Weg, und damit hat es sich. So ähnlich wie Abfall, den niemand sehen will, werden Verstorbene stillschweigend entsorgt. Man schiebt sie in den Verbrennungsofen oder lässt sie in ein kleines Loch in den Boden, das man dann zudeckt. In Indien ist das anders. Dort werden Verstorbene im besten Zimmer des Hauses aufgebahrt, und alle Freunde und Verwandte kommen, um sie noch einmal zu sehen. Dann sagen sie: „Ja, ja, genau so sah er aus. Wie zu Lebzeiten. Ah, wie glücklich und friedlich er aussieht. Also, mach’s gut, alter Freund.“ Sie vergießen ein paar Tränen und werfen Blumen auf den Leichnam. Vier starke Männer nehmen ihn auf die Schultern und tragen ihn durch die Straßen, wobei das Gesicht immer noch unbedeckt bleibt. Auf seinem Weg durch die Hitze wird der Leichnam ziemlich durchgeschüttelt. Eine große Menschenmenge folgt ihm, und die Leute am Wegrand schauen ihn an und sagen: „Ach, das ist ja der alte Soundso, ich wusste gar nicht, dass er gestorben ist.“

 

Einen solchen Leichenzug sah nun auch Siddhartha, und er fragte den Wagenlenker: „Wie eigenartig! Warum tragen sie denn diesen Mann umher? Was soll das? Was hat er denn getan?“ Auf seine gewohnt lakonische Weise erwiderte der Wagenlenker: „Nun, der Mann ist tot.“ Wieder dürfen wir nicht vergessen, dass Tod zu jenen Dingen gehörte, die man angeblich vor Siddhartha verborgen gehalten hatte, und wie zu erwarten, war er nach dieser Erklärung um kein bisschen klüger: „Tot, was willst du damit sagen?“ Erneut musste der Wagenlenker ausführlicher werden: „Nun, wie Ihr seht, ist der Mann steif und leblos; er atmet nicht, er sieht nicht, er hört nicht, und er fühlt nicht. Er ist tot. Man trägt ihn zum Verbrennungsplatz. Dort wird man seinen Körper verbrennen. So macht man das, wenn jemand gestorben ist.“ Bei diesen Worten schnürte es Siddhartha die Kehle zu: „Passiert das allen? Kommt jeder dahin, zu diesem Tod, wie du es nennst? Werde ich etwa ebenfalls sterben?“ Der Wagenlenker seufzte tief: „Ja, euer Vater, eure Mutter, eure Frau, euer Kind – sie alle müssen eines Tages sterben. Ich muss sterben, und Ihr müsst sterben. Wer geboren wird, muss sterben. Seit es die Welt gibt, wurden Millionen von Menschen geboren, und jeder von ihnen ist wieder gestorben. In der Zukunft werden bestimmt noch viele Millionen geboren werden, aber auch sie werden alle sterben. Niemand entgeht der eisigen Hand des Todes. Er herrscht über alles.“ Trauriger, nachdenklicher, ja gepeinigter als je zuvor, forderte Siddhartha seinen Wagenlenker auf, ihn wieder zum Palast zurückzubringen.

 

Diese drei Ausfahrten hatten ihn mit etwas konfrontiert, was wir heute vielleicht als ‚unausweichliche existentielle Situationen‘ bezeichnen würden, Tatsachen des Lebens, denen man nicht entgehen kann. Niemand will alt werden, doch können wir nichts dagegen tun. Wir wollen nicht krank werden, und doch passiert es. Wir wollen nicht sterben, aber – ob es uns gefällt oder nicht – es ist unausweichlich. Und so beginnen wir, uns zu fragen: „Wie bin ich nur in diese Lage geraten? Ich möchte ewig weiterleben, jung, stark und gesund sein, aber das wird nicht passieren. Wozu habe ich denn nur diesen starken Lebenswillen, wenn ich doch keine Chance habe, dem Tod zu entfliehen? Das ist rätselhaft. Aber warum wird man überhaupt vor dieses Rätsel gestellt? Weshalb dieses Mysterium? Ist Gott dafür verantwortlich? Ist es Schicksal? Ist es nur einfach so, wie es ist? Gibt es eine Erklärung oder gibt es keine?“

 

Siddhartha kämpfte noch immer mit diesen Grundfragen von Leben und Tod, als er auf seiner vierten Ausfahrt eine weitere Entdeckung machte. Diesmal sah er einen Mann, der die Haare geschoren hatte und nicht die übliche weiße Bekleidung trug, sondern eine gelbe Kutte. Ganz ruhig kam er die Straße entlang. Mit einer Bettelschale in den Händen ging er von Tür zu Tür. Irgend etwas an seinem besonnenen Gang fesselte Siddharthas Aufmerksamkeit, und er fragte seinen Wagenlenker: „Wer ist dieser Mann, der so ganz im Einklang mit sich selbst und der Welt zu sein scheint?“ Der Wagenlenker antwortete: „Das ist jemand, der fortgegangen ist.“ – „Fortgegangen?“, fragte Siddhartha, „Von wo fortgegangen?“ – „Er hat die Welt hinter sich gelassen“, erklärte der Wagenlenker, „er ist von seinem Zuhause und seiner Familie fortgegangen. Er hat das alles Weltliche aufgegeben, um sich nur noch der Wahrheitssuche zu widmen. Er sucht nach der Antwort auf die Rätsel des Daseins. Darum hat er alle Bindungen – alle familiären, gesellschaftlichen wie politischen Pflichten – aufgegeben. In diesem Sinne ist er fortgegangen.“

 

Solchen Menschen begegnet man in Indien noch immer. Auch heute noch tragen sie gelbe Kutten. Man nennt diese Leute sadhus, was einfach ‚gute Menschen‘ bedeutet. Es gilt als sehr verdienstvoll, sie mit Almosen zu unterstützen. Man gibt ihnen zu essen, lädt sie nach Hause ein und verköstigt sie dort. Zweieinhalbtausend Jahre nach Siddharthas Lebzeiten funktioniert dieses alte System noch immer. Der Anblick eines solchen Menschen weckte nun in Siddhartha den Wunsch, selbst in die Hauslosigkeit aufzubrechen. Die letztlich unzumutbaren Beschränkungen des menschlichen Daseins hatten sich zu tief in sein Bewusstsein eingegraben, als dass er sie noch hätte leugnen oder als unbedeutend abtun können. Er konnte einfach nicht mehr weiterleben wie bisher. Natürlich kann man so tun, als ob es diese Dinge, die doch immer gegenwärtig sind, nicht gäbe. Siddhartha konnte und wollte das nicht. Denn er hatte auch gesehen, dass es einen Weg gab, um die Bedeutung des Ganzen zu ergründen. Nach reiflicher Überlegung kam er zu dem Schluss, dass er keine andere Wahl hatte, als selbst ein sadhu zu werden: Diese Fragen verlangten eine Antwort, und er konnte nicht eher ruhen, bis er diese Antwort gefunden hatte.

 

In der tiefen Stille einer Vollmondnacht nahm Siddhartha von seiner schlafenden Frau und ihrem gemeinsamen Kind Abschied. Er verließ die beiden nicht gerne, aber er konnte nicht anders. Er hatte niemanden in seine Pläne eingeweiht, nur seinen treuen Wagenlenker, der nun auch das Pferd für ihn sattelte. Ein letztes Mal verließ Siddhartha den Palast als Prinz. Die Geschichte erzählt, der Wagenlenker habe sich am Schwanz des Pferdes festgehalten und sei hinter ihm hergelaufen, bis sie an den Grenzfluss des Schakya -Territoriums kamen. Dort schnitt sich Siddhartha den Bart und die langen herabfließenden schwarzen Haare ab. Genau zu diesem Zeitpunkt – die Morgendämmerung zog gerade auf – kam ein Bettler des Wegs. Siddhartha schlug ihm vor, miteinander die Kleider zu tauschen. So ausgefallen der Vorschlag auch sein mochte, dem Bettler gefiel er gut. Freudestrahlend über seine neuen, reich bestickten Gewänder, deren goldene und silberne Knöpfe und Schnallen im ersten Sonnenlicht funkelten, zog er weiter. Siddhartha verabschiedete sich von seinem getreuen Wagenlenker und seinem Pferd. Lange schaute er ihnen hinterher. Dann verschwand er allein im Dschungel.

 

Er begab sich auf die Suche nach Lehrern, von denen er sich erhoffte, sie hätten das grundlegende Rätsel des Lebens schon gelöst. Damals gab es in Indien wie auch heute noch viele Menschen, die die Wege zur Wahrheit erhellten. Er zog von einem Lehrer zum anderen, übte gemäß ihren Anweisungen und meisterte bald, was sie ihn lehren konnten. Aber das war ihm nicht genug. So gut und tiefgründig ihre Lehren auch sein mochten, wusste er doch, dass es noch etwas gab, das über all ihre Erkenntnisse, die er nun auch selbst erfahren hatte, hinausging. Zwar konnte er dieses Etwas selbst noch nicht benennen. Er wusste nicht einmal, was es eigentlich war. Aber er musste es finden, er musste es wissen. Er musste seine Suche fortsetzen.

 

Dankbar nahm er an, was die Lehrer ihm vermittelten, doch trieb es ihn weiter. Er unterzog sich äußerst strengen asketischen Übungen. Noch immer ist so etwas in Indien weit verbreitet. Dem liegt eine einfache Überzeugung zu Grunde: Je dünner gewissermaßen die fleischliche Hülle wird, desto durchlässiger wird sie für das Licht des Geistes. Jahrelang kasteite Siddhartha seinen Körper, und es gab niemanden in Indien, der ihn darin übertraf. Es heißt, der Ruhm seiner Selbstkasteiung hallte weithin durch die Lande, wie der Klang einer großen im Himmelsgewölbe hängenden Glocke. Allmählich scharte sich eine Gruppe von Anhängern um ihn. Doch dann geschah etwas, das ihn vor die Frage stellte, ob er nicht vielleicht große Fortschritte in die falsche Richtung gemacht habe. Eines Tages wurde er vor Schwäche ohnmächtig und stürzte in einen Fluss. Er war zu schwach, um allein aufzustehen und sich zu retten, aber glücklicherweise kam ihm jemand zu Hilfe. Als er sich erholt hatte, sagte er sich: „Das ist doch Unsinn. Diese ganze Askese hat mich der Wahrheit kein Stück näher gebracht. Ich habe meine Zeit verschwendet. Das war ein großer Irrtum.“

 

So begann der berühmte Asket Siddhartha wieder regelmäßig zu essen. Seine fünf Schüler fanden das alles andere als beeindruckend – genau genommen waren sie eher Bewunderer oder Fans als wirkliche Schüler. Sie hatten ihm die Anstrengung überlassen und sich gleichsam an seinen Rockzipfel gehängt, weil sie darauf vertrauten, dass seine Errungenschaften schon irgendwie auf sie abfärben würden. Sollte er eines Tages durch die Kraft seiner Askese das Ziel erreichen, dann wären sie die ersten, die davon profitieren würden. Um so größer war nun ihre Enttäuschung, als er sich entschloss, dem Körper wieder die nötige Nahrung zuzuführen. „Er gibt auf“, sprachen sie untereinander, „er kehrt wieder zum weltlichen Luxus zurück. Wir haben uns in ihm getäuscht.“ Angewidert verließen sie ihn. Wieder war Siddhartha allein.

 

Auf diese Weise kam er, sechs Jahre nach seinem Aufbruch aus dem Palast, an den Ort, der sich als Ziel seiner Suche herausstellen sollte. An einem Fluss in der Nähe des Dorfes Uruvela im heutigen Staat Bihar lag ein kleiner Wald mit schönen Bäumen. Heute ist dieser Ort als Bodh-Gaya bekannt. Er schien geradezu ideal, um sich dort niederzulassen und zu meditieren. Das tat Siddhartha auch. Er saß im Schatten eines Baumes, ein leichter Wind ging, und da erinnerte er sich plötzlich an etwas, das ihm den Weg zu weisen schien. Ihm kam jenes Erlebnis ins Gedächtnis, das er vor dreißig Jahren als Kind gehabt hatte. Damals hatte er, während sein Vater das Ritual der ersten Pflügung vollzog, unter einem Rosenapfelbaum gesessen. Ganz behutsam fühlte er sich nun wieder in jenen gesammelten Zustand der Vertiefung hinein. Er versuchte nicht, etwas herbei zu zwingen, sondern erlaubte dieser Erfahrung einfach aufzusteigen und ließ dabei zugleich all das los, was ihr Aufsteigen behinderte. Während er so dort saß, brachte ihm die Frau eines Kuhhirten aus dem nächsten Dorf ein wenig Milchreis, den er zu sich nahm. Das gab ihm wieder neue Kraft. Auch ein Grasschneider besuchte ihn und gab ihm einen Armvoll kusa-Gras, aus dem er sich einen bequemeren Sitz bereitete. Dann sammelte er sich erneut und gab sich ganz in die Erfahrung der Meditation hinein. Tiefer und tiefer tauchte er in eine andere Erfahrungswelt ein und durchlief immer höhere Ebenen überbewusster Zustände.

 

Wie lange er dort saß, wissen wir nicht. Vielleicht waren es einige Tage, vielleicht sogar Wochen und Monate. Wir wissen nur, dass er in der Vollmondnacht des Monats vesakha die Lösung jenes Problems fand, das ihn seit seinen ‚Vier Ausfahrten‘ nie mehr losgelassen hatte. Jetzt hatte er die Lösung nicht nur gefunden, sondern er verstand sie auch, drang tief in sie ein, wurde eins mit ihr und verwirklichte sie ganz und gar. Vollständige Klarheit stieg in ihm auf. Er war erleuchtet.

 

Manche frühen Texte versuchen, uns eine Vorstellung vom Inhalt dieses Erlebnisses zu vermitteln, aber das ist keine leichte Aufgabe. Erleuchtung ist ihrem Wesen nach unbeschreiblich. Sie ist nichts, wofür der Verstand Worte finden kann. Zunächst einmal können wir wohl sagen, dass es sich um eine Verfassung reinen, klaren und strahlenden Bewusstseins handelt. Diese Aussage wird manchmal dahingehend ergänzt, dass es in diesem Zustand reinen Gewahrseins keinen emotionalen Unterschied mehr zwischen sich selbst und anderen gibt. Die uns vertraute Erfahrung einer Innenwelt, die von der Außenwelt getrennt ist und ihr gegenübersteht, ist vollständig transzendiert. Es bleibt nur stetes, reines, homogenes Gewahrsein, das sich in alle Richtungen frei ausdehnt. Dies ist zugleich ein Gewahrsein der Welt, wie sie wirklich ist. Das heißt, die Dinge werden nicht als Objekte erfahren, sondern in einer Weise, welche die Dualität von Subjekt und Objekt transzendiert. Deshalb nennt man dieses reine, klare Gewahrsein auch Gewahrsein der Realität. Es ist ein Zustand des Wissens – aber nicht von Wissen in der üblichen Bedeutung eines bloßen Ansammelns von Meinungen über die Welt –, sondern ein Wissen, das die Welt selbst unmittelbar und wahrheitsgemäß sieht, ohne dass dieses Sehen von einem gewissermaßen unabhängig existierenden Subjekt vermittelt würde. Es handelt sich um eine spirituelle Vision oder Schauung – eine transzendente Schauung –, die frei von allen Täuschungen ist, frei von irrtümlichen Annahmen oder falschen, verdrehten Denkweisen, ohne jede Vagheit und Unklarheit und jenseits aller geistiger Konditionierung und jeden Vorurteils.

 

Aber das ist keineswegs schon alles. Wir können Erleuchtung nicht nur als umfassende Illumination, transzendentes Gewahrsein oder auch als Weisheit bezeichnen. Sie ist ebenso sehr ein Verströmen tiefer Liebe und mitfühlenden Erbarmens mit allen Lebewesen. Erleuchtung wird als das höchste Glück und zugleich als vollkommene Befreiung beschrieben – als die Glückseligkeit der Befreiung von allen subjektiven Mängeln und Beschränkungen der bedingten Existenz. Verbunden mit dieser ekstatischen Freiheit ist ein unermüdliches Aufsprudeln von Energie, absoluter Spontaneität und ununterbrochener Kreativität. Kein einziger dieser Erleuchtungsaspekte existiert und wirkt für sich allein. Aus diesem Grund läßt sich die tatsächliche Erfahrung letztlich überhaupt nicht beschreiben. Nur indem man über den Dharma – und damit über die Lehre und das lebendige Vorbild des Buddha – selbst reflektiert sowie durch tief gehende Kommunikationserlebnisse mit spirituellen Freunden und vor allem durch Meditation kann man andeutungsweise erahnen, was die Erleuchtung eines Buddha ausmacht.

 

Den Berichten der Überlieferung zufolge entfaltete sich die Erleuchtungserfahrung des Buddha allmählich im Verlauf der Vollmondnacht des vesakha-Monats. Eine Schilderung beschreibt, wie der Buddha während der ersten Nachtwache in die Vergangenheit – den „dunklen Abgrund der vergangnen Zeit“ – zurückblickte. Über Millionen Jahre der Evolution schaute er auf die gesamte Menschheitsgeschichte zurück. Es heißt, er habe alle seine früheren Leben vergegenwärtigt und gesehen, was er damals getan hatte und zu welchen Folgen seine Taten geführt hatten. Er durchschaute die Bedingungen, die er geschaffen hatte und die Ergebnisse, die daraus entstanden waren. Und er sah, dass er das alles nun abgeschlossen und zu Ende gebracht hatte. Er hatte den gesamten Lauf bedingter Existenz vollständig transzendiert.

 

Dann, während der zweiten Nachtwache, blickte er sozusagen um sich und erschaute das ganze Universum. Er sah Wesen aller Art – Menschen, Tiere und auch Wesen in höheren Welten. Er erkannte, wie ein jedes von ihnen entstanden war, was gemäß seinen Taten aus ihm geworden war und was es jetzt war. Anders gesagt erkannte er, wie die Wesen gemäß ihrem Karma wiedergeboren werden. Ihm wurde auch klar, dass dies für jede Ebene der weltlichen Existenz gilt, von den tiefsten Höllengründen bis in die höchsten Göttersphären hinein.

 

Während der dritten Nachtwache richtete er schließlich seinen Geist auf die Zerstörung der aschravas – wörtlich ‚giftige Ströme‘ oder ‚Neigungen‘. In diesem Zusammenhang ist mit den aschravas der natürliche und tief verwurzelte Hang des Geistes gemeint, einer bedingten Existenz zuzustreben, statt dem, was nicht bedingt ist. Sie bestehen in seinem Hang zum letztlich Nicht-Wahren statt zum Wahren. Man unterscheidet drei aschravas: die Neigung oder den Hang des Geistes zu sinnlicher Erfahrung; den Drang, eine für sich existierende, ich-hafte Persönlichkeit sein zu wollen und die Neigung zu spiritueller Verblendung im Sinne des Nicht-Wahrhabens der Realität. So richtete der Buddha seinen durch Konzentration vollkommen geläuterten Geist auf die Zerstörung der aschravas. Am Morgen, als die Sonne gerade aufging, wusste er, dass er die aschravas ganz und gar vernichtet hatte. Er hatte Erleuchtung erlangt. Aus Siddhartha Gautama war der Buddha geworden.

 

Auszug aus: Sangharakshita, Mensch?Gott?Buddha. Leben jenseits von Gegensätzen, do evolution, Essen 1998, S. 45-62

Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von do evolution.