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Sangharakshita: Karma — die ethische Dimension der universalen Bedingtheit

Die Fakten von Alter, Krankheit und Tod hatten Siddhartha Gautama einstmals vor ein Problem gestellt, das ihn zu seinem Aufbruch in die Hauslosigkeit trieb. Was er später, als er zum Buddha wurde, erkannte, löste in irgendeiner Weise dieses Problem. Dadurch kam er nicht nur auf irgendeine Weise mit dem Tod ins Reine oder freute sich sogar auf den Tod, sondern er erkannte etwas – und das nicht bloß intellektuell, sondern durch direktes Gewahrsein –, das ihn zu einer Art neuem Lebewesen machte: einem Wesen, für das Geburt und Tod einfach nicht galten. Zunächst zweifelte der Buddha an der Möglichkeit, diese alchemistische Einsicht, die er selbst als die ‘Wahrheit von pratitya samutpada’ bezeichnete, anderen zu vermitteln. Schließlich aber teilte er sie mit, obwohl sie so tiefgründig und subtil war. Philosophisch gesehen ist die Erkenntnis dieser Wahrheit – die Einsicht in das Prinzip universaler Konditionalität – der Kerngehalt der Erleuchtung des Buddha. Deshalb bezeichnen wir sie als das Grundprinzip des Buddhismus.

 

Zunächst formulierte der Buddha dieses Prinzip als knappe, ja nüchterne Behauptung: ,Dies ist durch jenes bedingt. Alles geschieht auf Grund einer Ursache.‘ Vielleicht aber ist es bezeichnend, daß die berühmteste Formulierung auf eine Begebenheit zurückgeht, bei der es tatsächlich kommuniziert wurde – und zwar mit dramatischer Wirkung. Hier war es nicht der Buddha selbst, sondern einer seiner Schüler, der kommunizierte, indem er es einem Wahrheitssucher mitteilte, der später der Hauptschüler des Buddha wurde.

 

Es geschah wenige Monate nach der Erleuchtung des Buddha. Ein junger Brahmane namens Sariputra war – wie es auch der Buddha einst getan hatte – zusammen mit seinem Jugendfreund Maudgalyayana in die Hauslosigkeit aufgebrochen. Mittlerweile wanderte er alleine, denn sie hatten vereinbart, in verschiedenen Richtungen zu suchen: Wer zuerst einem erleuchteten Lehrer begegnen würde, wollte den anderen benachrichtigen. So hofften sie ihre Chancen zu verdoppeln.

 

Sariputra begegnete auf seiner Wanderung nun Asvajit, einem der ersten fünf Schüler des Buddha, der, inzwischen selbst erleuchtet, umherwanderte, um den Dharma zu lehren. Tief bewegt von der Erscheinung dieses wandernden Mönchs, der Frieden und Glückseligkeit ausstrahlte, ging Sariputra auf ihn zu, begrüßte ihn und fragte: »Wer ist dein Lehrer?« Uns mag das als ziemlich unverblümte Art der Kontaktaufnahme vorkommen. In England eröffnen wir ein Gespräch eher mit Floskeln wie »schönes Wetter heute« oder »sieht so aus, als ob die Sonne wieder hervorkommt«. In Indien jedoch pflegt man gleich zur Sache zu kommen. Und so fragte Sariputra das, was Inder auch heute noch fragen, wenn sie einander in ähnlicher Weise begegnen. Asvajit antwortete: »Mein Lehrer ist Sakyamuni, der Weise aus dem Stamm der Sakyer, der Buddha.« Nun stellte Sariputra eine zweite Frage – wieder eine Standardfrage, die allerdings besonders folgenschwer war: »Was lehrt er?« Asvajit antwortete: »Offen gestanden bin ich noch ein Anfänger. Ich weiß eigentlich nicht viel über den Dharma. Aber ich kann dir kurz sagen, worum es geht.« Und was er dann sagte, wurde in der gesamten buddhistischen Welt in Form einer kurzen Strophe berühmt. Er sagte – oder vielleicht verkündete er sogar:

 

»Für alle Dinge, die aus einer Ursache entstehen, hat der Tathagata die Ursache erklärt und ebenso ihr Aufhören. Das ist die Lehre des großen Sramana.«

 

Offenbar hatte diese Strophe eine erschütternde und zugleich befreiende Wirkung auf den Geist Sariputras. Er erlebte blitzartig eine Ahnung von jener Wahrheit, die sie ausdrückte. Transzendente Einsicht schien in ihm auf, und er wurde direkt zu einem ‘Stromeingetretenen’. Anscheinend war der Boden in ihm so gründlich bereitet, daß diese überaus knappe Darlegung des Dharma genügte, um ihm zu zeigen, daß er mit seiner Suche am Ziel angekommen war. Er konnte zu seinem Freund Maudgalyayana gehen und ihm mit innerer Gewißheit berichten, daß er den Buddha gefunden hatte.

 

In der ganzen buddhistischen Welt Asiens wird diese Strophe Asvajits rezitiert, verehrt und gepriesen. In Tibet, China, Japan, Thailand und Sri Lanka findet man ihn in Stein gemeißelt, auf Tontafeln und in Platten von Gold oder Silber graviert. Sie wird auf Papierstreifen gedruckt, die in Buddhabildnisse verschlossen werden. Man kann sogar sagen, daß diese Strophe das Glaubensbekenntnis des Buddhismus ist. Mag sie uns auch eher trocken und abstrakt, akademisch und sogar uninspiriert vorkommen – Sariputra erlebte sie ganz anders. Wenn Sie über das Prinzip von pratitya samutpada wirklich nachdenken: Wenn Sie darüber meditieren und seinen tieferen Sinn wirklich ergründen, dann beginnen Sie, die außerordentliche Wirkung zu verstehen, die es auf die Welt gehabt hat. Was immer auf gleich welcher Ebene ins Dasein tritt, tut dies abhängig von Bedingungen, und mit dem Aufhören dieser Bedingungen hört es auf zu sein. Das ist alles, was dieses Grundprinzip besagt. Wenn es aber überhaupt so etwas wie Buddhismus gibt, dann ist es das.

 

Dieses Prinzip besagt, daß der erleuchtete Geist in allen Erscheinungen, den körperlichen genau so wie den psychischen, ein hervorstechendes Merkmal sieht: Sie sind bedingt. Der unaufhörliche Fluß des Seins – der materiellen Ereignisse wie auch der Geisteszustände – ist ein Prozeß wechselseitig abhängiger Phasen, die alle durch das Vorhandensein von Bedingungen entstehen und die selbst wiederum die auf sie folgenden Phasen bedingen. Regen, Sonne und die nährende Erde sind Bedingungen, aus denen eine Eiche wächst, deren gefallenes Laub vermodert und so den reichhaltigen Humus bildet, aus dem eine Glockenblume wächst. Eifersüchtiges Anklammern zeitigt Folgen, die bis zum Mord führen können. Keine Erscheinung ist spontan ohne vorangehende Bedingungen entstanden oder bleibt selber folgenlos. Und es ist unser Gewahrwerden dieses Gesetzes der Konditionalität, das uns allmählich von allen Bedingungen befreit und zur frei wirkenden, spontanen Schöpferkraft der Erleuchtung führt.

 

Wenn uns einigermaßen klar ist, worin die Erkenntnis des Buddha besteht, können wir untersuchen, wie sie eigentlich jenes Problem löst, das Siddhartha Gautama einstmals zu seinem Aufbruch veranlaßt hatte. Wie steht es nun um Alter, Krankheit und Tod? Wie passen die unverrückbaren Fakten unseres körperlichen Verfalls in das gesamte Geschehen der Konditionalität hinein? Geht dieser ‘nichtendende Fluß der Dinge’ nach dem Tod weiter, oder ist der Tod das Ende? Solche Fragen sind für uns natürlich nicht abstrakt oder theoretisch. Das Geheimnis des Todes, das schon die frühe Menschheit so sehr ängstigte, ist immer noch ein Geheimnis. Sogar heute, wo wir doch anscheinend so viel wissen, muß man nur einen Vortrag mit dem Titel ‘Das Tibetische Buch der Toten’ oder ‘Was kommt nach dem Tod?’ halten, um die Massen anzuziehen. Und der Markt für Bücher über Tod und Sterben ist kerngesund. Wir mögen wohl glauben, seit der grauen Vorzeit habe sich die Lage völlig gewandelt. Was aber unser Verständnis des Todes angeht, hat sich kaum etwas geändert. Im Gegenteil: Das ‘Problem’ des Todes ist heute eher noch drängender.

 

Die meisten Menschen im Westen, die in die Vorträge über Karma und Wiedergeburt oder das Tibetische Buch der Toten strömen, wollen letztlich dies erfahren: ‘Was geschieht mit mir, wenn ich sterbe? Ist der Tod das Ende, der Schlußstrich – oder nicht?’ Nun, wenn wir ganz sicher sein könnten, daß der Tod nicht das Ende ist, gäbe es hier gar kein Problem. Wenn wir sicher wüßten, daß wir mit dem Tod nicht einfach verschwinden würden, wären wir viel weniger geneigt, einen Vortrag über Karma und Wiedergeburt zu besuchen oder den neuesten Kommentar zum Tibetischen Buch der Toten zu ergattern. Doch für uns im Westen ist der Tod das Problem. Im Osten, besonders im hinduistischen und buddhistischen Osten ist das anders. Die Menschen dort sorgen sich weniger über den Tod. Sie finden den Tod natürlich und unausweichlich – und ebenso die Wiedergeburt. Man stirbt und wird wiedergeboren, man stirbt erneut und wird erneut wiedergeboren – so ist eben der Lauf der Dinge. Es lohnt sich nicht, darüber zu spekulieren. Nicht der Tod gilt im Osten als Problem, sondern die Frage, wie man dem ganzen Kreislauf von Geburt und Tod entkommen kann. Wie können wir einen Zustand erreichen, in dem wir Geburt und Tod nicht mehr unterworfen sind? Das Problem liegt also darin, wieder und wieder, durch endlose Zeiten hindurch zu sterben und geboren zu werden. Damit ist die Frage auf eine höhere Stufe gehoben: Was im Westen als Lösung gilt, ist für den Osten das eigentliche Problem und verlangt nach einer weiteren Lösung. Genau an diesem Punkt setzt die Entdeckung des Buddha an: das allgemeingültige Prinzip der Konditionalität.

 

Als der Buddha im Zuge seiner Erleuchtungserfahrung die ganze Weite des bedingten Seins überblickte, sah er, daß alles, vom geringsten bis zum höchsten, dem universalen Gesetz der Konditionalität unterworfen ist. Überdies erkannte er, daß dieses allgemeingültige Gesetz in zwei unterschiedlichen Arten oder Modi wirkt: einem zyklischen und einem spiralförmigen Modus. Im zyklischen Modus finden wir Aktion und Reaktion zwischen Gegensätzen. Wir erleben Vergnügen und Schmerz, Laster und Tugend, Geburt und Tod, und gewöhnlich pendeln wir zwischen diesen Polen hin und her. Auf Leben folgt Tod und darauf wieder neues Leben. Auf Schmerz folgt Vergnügen und erneuter Schmerz. Auf allen Ebenen des Lebens – der physischen, biologischen, psychologischen, soziologischen oder historischen – wirkt derselbe zyklische Prozeß. Imperien entstehen und fallen; auf Wachstum folgt zwangsläufig Verfall; Gesundheit, Reichtum, Ruhm und Macht zeitigen Verlust, Alter, Krankheit, Tod und Vergessen als unausweichliches Ergebnis.

 

Im spiralförmigen Modus der Konditionalität dagegen gibt es die Möglichkeit echten und beständigen Wachstums. Statt die Wirkung des jeweils vorangehenden Faktors umzukehren, steigert hier jeder neue Faktor seine Wirkung. Statt zwischen Vergnügen und Schmerz hin und her zu pendeln, gelangen wir von Vergnügen zu Zufriedenheit, von Zufriedenheit zu Freude, von Freude zu Begeisterung, von Begeisterung zu Seligkeit, und immer so weiter. Dieser Spiralmodus ist auf Leben und Tod ebenso wie auf alles andere anwendbar. Der Buddha erkannte, daß wir als Menschen zwar dem endlosen Kreislauf von Geburt und Tod unterworfen sind, daß wir aber auch den Spiralpfad der spirituellen Entwicklung betreten können – den ‘Pfad zum Tor der Todlosigkeit’, der über den Gegensatz von Leben und Tod hinausführt.

 

Auf den Prozeß von Leben und Tod angewendet, brachte das Prinzip der Konditionalität eine der berühmtesten und wichtigsten, und zugleich eine der meist mißverstandenen buddhistischen Lehren hervor: die Lehre von Karma und Wiedergeburt. Das erste, was man hier verstehen muß, ist die Tatsache, daß Karma bloß eine Anwendung des Prinzips der Konditionalität ist. Es ist nichts Mysteriöses oder Sonderbares, nichts Seltsames oder Okkultes. Ganz allgemein gesagt steht Karma für die Wirkung des Gesetzes der Konditionalität auf einer bestimmten Seinsebene. Es ist wichtig, dies zu betonen, denn manche Verwirrung ist aus dem Irrtum entstanden, daß Karma die buddhistische Lehre von Ursache und Wirkung ist und daß es allumfassend ist. Das trifft nicht zu. Konditionalität ist das grundlegende Prinzip; Karma ist nur eine der verschiedenen Funktionsweisen von Konditionalität. Das wird klarer, wenn wir eine buddhistische Lehre heranziehen, die erst beträchtliche Zeit nach dem Leben des Buddha formuliert wurde. Sie kommt aus der analytischen und systematisierenden philosophischen Tradition des Abhidharma und ist die Lehre von den sogenannten fünf niyamas. Dies ist eine äußerst nützliche Lehre, denn ganz nach Art des Abhidharma verknüpft sie verschiedene Fäden, die in den ursprünglichen Suttas eher lose und unverbunden aufzufinden sind.

 

Das Wort niyama, ein Pali- und Sanskritbegriff, bedeutet so etwas wie ‘Regel’, ‘Naturgesetz’ oder ‘kosmische Ordnung’. Die fünf niyamas zeigen die Wirkung des Prinzips der Konditionalität auf fünf verschiedenen Ebenen. Die ersten drei sind verhältnismäßig leicht verständlich, denn wir können sie auf die westlichen Wissenschaften beziehen.

 

Zunächst einmal gibt es den utu-niyama. Utu bedeutet ‘unbelebte Materie’. Heutzutage kommen Zweifel auf, ob es überhaupt so etwas wie unbelebte Materie gibt, doch nennen wir es hier einmal so. Anders gesagt handelt es sich um den physischen, anorganischen Bereich. Der Utu-niyama entspricht dem Gesetz von Ursache und Wirkung, wie es im Bereich der anorganischen Stoffe gilt. Grob verallgemeinert umfaßt er die Gesetze von Physik, Chemie und der mit ihnen verwandten Disziplinen.

 

Der zweite niyama ist der bija-niyama. Bija bedeutet ‘Same’, und entsprechend betrifft bija-niyama die Welt der belebten Materie, den physisch-organischen Bereich, dessen Gesetzmäßigkeiten den Gegenstand der Biologie bilden.

 

Darauf folgt der citta-niyama. Citta ist ‘Bewußtsein’, und somit bezieht sich citta-niyama auf das Wirken der Konditionalität auf der Ebene des Bewußtseins. Deshalb impliziert die Existenz dieses dritten niyama, daß mentale Aktivität und Entwicklung nicht vom Zufall, sondern von Gesetzmäßigkeiten bestimmt sind. Es ist wichtig zu verstehen, was das bedeutet. Gewöhnlich denken wir, daß auf der Stufe von Physik, Chemie und Biologie zwar Naturgesetze wirken; der Gedanke aber, daß ganz ähnliche Gesetze auch die Bewußtseinsprozesse regeln, ist uns weit weniger geläufig. Im Westen neigen wir eher zur Annahme, geistige Ereignisse passierten einfach ohne besondere Ursachen. Der Einfluß Freuds hat in gewissen Kreisen zwar erste Veränderungen dieser Annahme bewirkt, doch ist die Auffassung, daß geistige Phänomene in Abhängigkeit von Bedingungen entstehen, noch nicht sehr tief ins allgemeine Denken durchgedrungen. Im Buddhismus hingegen gibt es sie in dieser Lehre von citta-niyama, dem Gesetz von Ursache und Wirkung im Bereich des Bewußtseins – eine Auffassung, die auch den Befunden der modernen Psychologie entspricht.

 

Viertens: kamma-niyama. Das Wort kamma (Pali) ist in seiner Sanskritform karma besser bekannt. Es bedeutet ‘Handeln’ im Sinne eines absichtlichen, willentlichen Tuns. So heißt es traditionell gelegentlich auf paradoxe Weise, Karma entspreche cetana (willensmäßigem Bewußtsein), oder Handeln entspreche Wollen: ‘denn sobald das Wollen entsteht, führt man die Handlung aus, sei es mit Körper, Rede oder Geist.’ Der Kamma-niyama erstreckt sich somit auf den Bereich der ethischen Verantwortung; er formuliert das Prinzip der Konditionalität, wie es auf der Ebene von Moral wirkt.

 

Mit unserem westlich geprägten Verständnis von Ethik und Moral finden wir es vielleicht schwierig zu begreifen, wie dieses Prinzip funktioniert. In der normalen Gesellschaft wird jemand, der ein Verbrechen begeht, festgenommen und vor Gericht gestellt; er wird verhört, überführt, verurteilt und ins Gefängnis gebracht oder mit einer Geldstrafe belegt. Ein Verbrechen zu begehen und dafür bestraft zu werden, sind zwei voneinander getrennte Ereignisse, und dabei gibt es jemanden – Polizei und Gesellschaft, Richter und Gesetz –, der die Bestrafung vollzieht. Wir neigen dazu, dieses Rechtsmodell auf den gesamten Bereich ethischen Handelns zu übertragen. Wir denken an ein Vergehen und an seine Bestrafung, an Tugend und an die Belohnung von Tugend. Herkömmlicherweise denken wir dabei auch an einen Richter, der sieht was wir tun und uns entsprechend bestraft oder belohnt. Dieser Richter ist natürlich Gott. Manche Menschen stellen sich Gott als jemanden vor, der alle paar Monate – im Kreise von Engeln und Dämonen, die wie Polizeizeugen dabeistehen – eine Art großen Gerichtstag hält, wo jedermann ihm vorgeführt wird. Noch immer ist es die offizielle christliche Lehrmeinung, daß man nach dem Tod vor seinen Richter tritt. Für orthodoxe Christen ist es eine furchterregende Aussicht, in die Anklagebank vor den transzendenten Richter geführt zu werden, um anschließend an irgendeinen von ihm bestimmten Ort verfrachtet zu werden. Das dieser Lehre innewohnende dramatische Potential hat in Dichtung und Musik, Theater und Malerei einige große Kunstwerke hervorgebracht. Michelangelos erschütterndes Bild des ‘Jüngsten Gerichts’ ist nur ein Beispiel dafür. Zugleich aber hat es eine eher armselige Philosophie und Denkweise erzeugt, die vielen noch heute einen gespenstischen Katzenjammer bereitet.

 

Die buddhistische Sicht ist ganz anders. Sie ist so anders, daß sie uns ausgesprochen seltsam vorkommen mag, denn unser Zugang zur Ethik ist – ob wir wollen oder nicht – fast unvermeidlich von christlicher Theologie untermauert. Der Buddhismus kennt ein Gesetz, aber keinen Gesetzgeber und überhaupt niemanden, der Recht spricht. Ich habe selbst erlebt, wie christliche Missionare in Diskussionen mit Buddhisten auf der Meinung beharrten, wer an die Existenz eines Gesetzes glaube, müsse auch an einen Gesetzgeber glauben. Eine solche Argumentation ist ziemlich trügerisch. Es gibt doch auch ein Gesetz der Gravitation ohne einen Gravitationsgott, der die Dinge anzieht oder abstößt. Das Gesetz der Gravitation beschreibt in verallgemeinerter Weise, was geschieht, wenn Dinge fallen. Ebensowenig gibt es einen Gott der Vererbung oder der Partnerwahl. Derlei Dinge geschehen eben; sie funktionieren von alleine.

 

Auf dem Gebiet der Moral ist es nach buddhistischem Verständnis genauso. Das Recht spricht sich sozusagen selbst. Gutes Karma führt ganz natürlich zu Glück, schlechtes Karma ganz natürlich zu Leiden. Es ist gar nicht nötig, daß irgendwer hinzukommt und sieht, was wir getan haben, um uns dann eine Strafe oder Belohnung zuzumessen. Das passiert von selbst. ‘Gut’ und ‘schlecht’ sind in die Struktur des Universums eingebaut. Diese Aussage klingt vielleicht verdächtig anthropomorphisch – und wir geben hier auch nur eine grobe Darstellung. Letztlich ist damit die Tatsache gemeint, daß das Universum aus buddhistischer Sicht ein ethisches Universum ist. Genauer gesagt funktioniert das Universum gemäß der Konditionalität, und diese wirkt auf der karmischen Ebene in einer Weise, die wir insofern als ethisch beschreiben können, als sie ethische Werte einschließt. Dies ist der kamma-niyama.

 

Der fünfte und letzte niyama ist der dhamma-niyama. Dhamma (Sanskrit dharma) ist ein Wort mit einer Vielzahl möglicher Bedeutungen. Hier bedeutet es schlicht ‘spirituell’ oder ‘transzendent’ im Gegensatz zu ‘weltlich’. Auch auf dieser Stufe also wirkt das Prinzip der Konditionalität. Wie das genau geschieht, wurde allerdings nicht immer klar dargestellt. Man muß sogar sagen, daß einige der bekannteren Erklärungen dieses niyama recht naiv und oberflächlich sind. So berichten gewisse Legenden, wie die Erde auf sechs verschiedene Arten bebte und vibrierte, als der Buddha die Erleuchtung erlangte – und ebenso, als er starb und bei anderen wichtigen Gelegenheiten. Manche Kommentatoren schrieben dies der Wirkung des dhamma-niyama zu.

 

Im Grunde müssen wir gar nicht weit entfernt suchen, um eine vernünftigere und nützlichere Erklärung zu finden. Der Schlüssel hierzu ist meines Erachtens ganz offensichtlich die Unterscheidung der zwei Arten oder Modi von Konditionalität. Die ersten vier niyamas, einschließlich des kamma-niyama, sind allesamt Arten der Konditionalität im zyklischen Sinn der Aktion und Reaktion zwischen Gegensätzen. Der Dhamma-niyama entspricht dagegen dem Spiraltyp der Konditionalität. Als solcher umfaßt er die Gesamtsumme der spirituellen Gesetze, die den Fortschritt auf den Stufen des buddhistischen Pfades regulieren.

 

Karma meint also nicht das Gesetz der Konditionalität im allgemeinen, sondern nur soweit es auf einer bestimmten Ebene wirkt – der ethischen Ebene oder der Stufe moralischer Verantwortung. Folglich sollten wir nicht glauben, daß alles, was uns widerfährt, zwangsläufig ein Ergebnis unserer früheren Taten ist, denn Karma ist ja bloß eine der fünf Ebenen von Konditionalität. Was uns passiert, kann ein Ergebnis physischer, biologischer, psychologischer, ethischer oder spiritueller Faktoren sein. In den meisten Fällen wird es sich um eine komplexe Verbindung von Faktoren handeln, und somit sind mehrere niyamas beteiligt.

 

Wie aber wirkt Karma in der Praxis? Was passiert, wenn es schon keinen Richter gibt, der das Urteil spricht? Der Abhidharma, jene genaueste Schule der buddhistischen Philosophie, zeichnet ein sehr klares Bild von Karma, indem er es aus sieben verschiedenen Blickrichtungen klassifiziert. Diese sind: der ethische Status, das ‘Tor’ (was dies bedeutet, werden wir gleich erläutern); die Angemessenheit der resultierenden Erfahrungen; der Zeitpunkt, an dem die Wirkung eintritt; die Reihenfolge, in der die Wirkung eintritt; die Funktion und schließlich die Daseinsebene, auf der das Karma reift. Wir werden nun diese sieben Arten, Karma zu klassifizieren, betrachten.

 

Zunächst einmal: Wie klassifiziert man Karma ‘gemäß seinem ethischen Status’? Als wichtigster Punkt ist hier zu verstehen, daß der ethische Status einer Willenshandlung durch die Geisteshaltung bestimmt wird, in der sie vollzogen wird – das gilt im Buddhismus als unbedingt axiomatisch. Eine solche Geisteshaltung kann eine Haltung sein, die wir als ‘förderlich’ oder als ‘schädlich’ bezeichnen. Die Wortwahl selbst ist hier bezeichnend, denn sie betont, daß die Übung buddhistischer Ethik ebensosehr eine Frage von Intelligenz wie von Güte ist. Schädliche Geisteshaltungen sind solche, die von Begierde (neurotischem Verlangen), von Abneigung (Haß und Widerwillen) und von Verblendung beherrscht sind. Wir werden dafür nicht bestraft, sondern sie selbst machen uns unglücklich, weil schädliche Geisteszustände mit einer Verengung unseres Seins und Bewußtseins einhergehen, die wir als Leid erleben. Förderliche Geisteszustände sind dagegen von Zufriedenheit, Liebe, Verstehen und geistiger Klarheit gekennzeichnet. Auch hier gibt es niemanden, der uns belohnt. Ob wir die förderlichen Taten nun mit Körper, Rede oder Geist vollziehen – sie führen von selbst zu einem Empfinden erweiterten Seins und Bewußtseins, das wir als Glück erfahren. In gewissem Sinn ist förderliches Handeln Glück.

 

Somit ist die buddhistische Ethik psychologisch begründet. Handeln ist nicht förderlich oder schädlich, weil es einer äußerlichen Liste von Regeln genügt, sondern weil es im Einklang mit einem bestimmten Seinszustand steht. Gleichwohl gibt es ‘Regeln’, die üblicherweise ‘Vorsätze’ genannt werden. Sie sind nur in dem Sinne Regeln, als sie eine grobe Orientierung geben, wie man sich verhalten würde, wenn man in einer bestimmten Verfassung wäre. Diese Vorsätze sind kein Selbstzweck; sie werden uns nicht von einer religiösen ‘Gruppe’ auferlegt, sondern sie dienen nur einem Ziel: Erleuchtung zu erreichen. Der Buddha unterschied überdies zwischen ‘natürlicher Moral’ (Pali pakati-sila) und ‘konventioneller Moral’ (pannatti-sila). Die natürliche Moral ist allgemeingültig; sie basiert auf den Grundtatsachen der Psychologie. Die konventionelle Moral dagegen variiert von Land zu Land und basiert auf bloßen Meinungen und Sitten. Nur die natürliche Moral fällt unter die Wirkung des Karmagesetzes.

 

Einige Schulen des Buddhismus bemühen sich sehr, diese psychologische und spirituelle Begründung der buddhistischen Ethik sicherzustellen. Um der Gefahr eines ethischen Formalismus – dem Glauben, man sei gut, weil man sich ja an die Vorschriften hält – vorzubeugen, bestehen das Zen oder die tantrischen Schulen darauf, einen überraschenden oder auch schockierenden Schluß aus dem buddhistischen Verständnis von Moral zu ziehen. Sie behaupten, erleuchtete Männer oder Frauen seien im Prinzip fähig, auch offensichtlich unethische Handlungen zu begehen. Sie betonen, daß der Geisteszustand und nicht etwa die Tat selbst den Ausschlag gibt, denn der Geisteszustand bestimmt den ethischen Wert und damit auch die karmische Auswirkung einer Tat. Aus der Sicht dieser Schulen ist unsere Neigung, uns an die vom ethischen Formalismus gegebenen, leichten Antworten zu klammern, so stark, daß wir geradezu in die Erkenntnis ‘hineinschockiert’ werden müssen, daß die buddhistische Ethik auf einer anderen Grundlage operiert als die konventionelle Moral. Viele der oft bizarren Geschichten des Zen oder Tantra illustrieren diese Auffassung. Sie zeigen, daß keine ethische Regel, so klar und eindeutig sie auch formuliert sein mag, unter allen Umständen gilt. Sie mag wohl meistens anwendbar sein, doch dürfen wir sie nicht absolut setzen. Die Geisteshaltung, aus der heraus eine Handlung vollzogen wird, bestimmt ihren ethischen Wert.

 

So wesentlich dieser Punkt ist, so leicht kann man ihn natürlich mißverstehen. Nur zu gerne wollen wir ihm die Bedeutung unterschieben: ‘Wenn es sich gut anfühlt, dann tu’s doch’. Das wäre aber eine völlige Verzerrung der buddhistischen Ethik. Ziemlich viele Leute fühlen sich auch dann wohl, wenn sie gerade etwas tun, was in jeder Hinsicht schädlich ist. Es geht es nicht darum, den Instinkten oder Gefühlen mir nichts dir nichts zu folgen, sondern darum, den bestmöglichen Geisteszustand zu erlangen und aus ihm heraus zu handeln. Ethische ‘Regeln’ oder Vorsätze sollen zu einem Handeln führen, das positive Geisteszustände auch dann unterstützt, wenn unsere Verfassung einmal nicht besonders positiv ist. Das Ideal oder Ziel der buddhistischen Ethik ist es aber, aus einer positiven, förderlichen Geistesverfassung heraus zu handeln – einer Haltung von Zufriedenheit, Liebe, Mitgefühl, Frieden, Stille, Freude, Weisheit, Gewahrsein und Klarheit des Verstehens.

 

Nun zur Klassifizierung von Karma gemäß dem ‘Tor’. Dieser malerische Ausdruck bezieht sich auf das ‘Tor’, durch welches Karma gewissermaßen vollzogen wird. Traditionell unterscheidet der Buddhismus drei Aspekte am Menschen: den Körper, die Rede und den Geist – sie sind die ‘Tore’. Denn nicht nur körperliche Taten und sprachliche Äußerungen, sondern auch geistige Handlungen, also Gedanken und Gefühle, zeitigen karmische Folgen. Allerdings hat eine Tat – durch welches ‘Tor’ sie auch vollzogen wird – nur dann karmische Wirkungen, wenn sie absichtlich geschieht. Wenn Sie etwas nicht tun wollten oder wenn das, was Sie gesagt haben, mißverstanden wird, führt Ihr Handeln nicht zu Wirkungen im Rahmen des Karmagesetzes. Hierin unterscheidet sich der Buddhismus von Jainismus. Wenn wir beispielsweise – trotz aller möglichen Vorkehrungen – unabsichtlich ein Lebewesen töten, glauben Jainisten, ein solches Tun ziehe dennoch karmische Folgen nach sich, die uns in Zukunft leiden lassen. Anders gesagt, basiert das jainistische System der Ethik auf Regeln, und zwar sehr komplizierten Regeln, wogegen das buddhistische System auf Psychologie gründet.

 

Drittens wird Karma ‘entsprechend der Angemessenheit der resultierenden Erfahrungen’ klassifiziert. Grob – und damit letztlich unbuddhistisch – ausgedrückt heißt dies: Karma wirkt so, daß die Strafe zum Verbrechen paßt. Wenn Sie Achtung vor Lebewesen empfinden und sie schützen und erhalten, dann werden Sie in einem Zustand des Wohlergehens wiedergeboren, in dem Sie eines langes Lebens genießen. Wer dagegen willentlich Leben nimmt, wird in einem Leidenszustand wiedergeboren, und sein Leben wird kurz sein. Ebenso werden Sie, wenn Sie Freigebigkeit üben, in besseren Verhältnissen wiedergeboren; wer aber geizig ist, wird arm und notleidend wiedergeboren. Wer anderen respektvoll und ehrerbietig begegnet, wird auf einer hohen sozialen Stufe wiedergeboren; wer auf andere herabblickt und sie verachtet, findet sich am unteren Ende der sozialen Rangskala wieder.

 

Manchmal wird dieses Prinzip in einer Weise angewandt, die wir im Westen eher albern finden. In einem Text heißt es etwa, daß Leute, die andere verleumden oder unfreundlich über sie herziehen, in ihrer nächsten Existenz an üblem Mundgeruch leiden werden. So töricht es gelegentlich benutzt werden mag – das Prinzip selber ist gültig und auch ziemlich klar: Was wir anderen Menschen antun, tun wir auf lange Sicht uns selber an. Bei dieser Aussage handelt es sich nicht etwa um buddhistische Theologie, sondern um vernünftige Psychologie. Man kann sie auch umkehren und sagen: Was immer wir uns selbst antun, tun wir auf lange Sicht auch anderen Menschen an.

 

Die vierte Art, Karma zu klassifizieren ist jene ‘gemäß dem Zeitpunkt, an dem die Wirkung eintritt’. Drei Arten von Karma werden hier unterschieden: Karmas, die im gegenwärtigen Leben reifen, was bedeutet, daß die Ergebnisse im gleichen Leben eintreten, in dem die Tat begangen wurde; Karmas, deren Resultate in einem späteren Leben auftreten; und Karmas, die überhaupt nicht zur Wirkung gelangen. Diese letzte Kategorie wird uns vielleicht überraschen. Manchen populären Darstellungen zufolge ist Karma ein ehernes Gesetz, dem nichts entgehen kann. Sogar eine winzige gute oder schlechte Tat, die wir vor Millionen Jahren in einer längst vergangenen Existenz ausgeübt haben, wird uns nach dieser Auffassung irgendwann einholen. Hier handelt es sich anscheinend um eine Vorstellung, die manche Menschen äußerst anziehend finden – die Vorstellung, daß es keine Ausflucht gibt, sondern daß wir für alles, was wir je getan haben, büßen müssen.

 

Das ist allerdings nicht die buddhistische Lehre. Nach buddhistischem Verständnis heben sich manche Karmas, ob sie nun förderlich oder schädlich sind, mit der Zeit auf. Sie können durch entgegengesetzte Karmas aufgewogen werden oder einfach ihre Kraft verlieren. Fehlt ihnen die Gelegenheit zum Ausdruck, können sie sich einfach auflösen. Demnach gibt es kein ‘ehernes Gesetz’ des Karma. Manche Karmas bleiben ohne Wirkung.

 

Die fünfte Art, Karma zu gruppieren – ‘im Hinblick auf die Reihenfolge, in der die Wirkung eintritt’ – bringt uns zum Thema der Wiedergeburt. Wiedergeburt ist ein Ergebnis von Karma, doch gibt es viele verschiedene Arten von Karma. Wenn man gestorben ist und die Wiedergeburt naht, gibt es im Hintergrund eine ganze Reihe von Karmas, die sozusagen darauf warten, ihre Wirkung zu zeitigen. Damit stellt sich die Frage: In welcher Rangfolge beeinflussen sie die Art der nächsten Existenz?

 

Hinsichtlich ihrer relativen Priorität lassen sich Karmas in vier Gruppen einreihen. Als ‘gewichtiges Karma’ werden hier jene förderlichen oder schädlichen bewußten Willensregungen genannt, die so stark sind, daß sie den ganzen Charakter eines Menschen verändern und beeinflussen. Für die schädlichen gewichtigen Karmas wird meistens Mord, also das absichtliche Töten von Leben, als Beispiel genannt, und dies um so mehr, wenn das Opfer spirituell fortgeschritten ist. Meditation dagegen ist ein wesentliches förderliches, gewichtiges Karma. Dabei sollten uns aber klar verstehen, was damit gemeint ist. Das Wort ‘Meditation’ wird anscheinend sogar von Buddhisten oft im Sinne des bloßen Versuchs zu meditieren benutzt und nicht im Sinne der tatsächlichen Erfahrung höherer Bewußtheitsstufen. Als gewichtiges förderliches Karma ist Meditation aber mehr als nur eine Art wohlig-passiver Tagträumerei. Meditation ist eine Handlung, die unser gesamtes Sein verwandelt, den ganzen Charakter, das ganze Bewußtsein, und zwar sowohl hier und jetzt als auch in der Zukunft. Wenn Sie die Meditation beenden, sollten Sie sich nicht in einem harmlos-netten, leicht abgehobenen Geisteszustand befinden. Wenn das so ist, hatten Sie vielleicht einen angenehmen kleinen Tagtraum, aber Sie haben nicht meditiert. Meditation ist etwas sehr Dynamisches, sie fordert heraus, ja sie erschüttert. Nach der Meditation sollten Sie sich voller Kraft, Energie und Lebendigkeit fühlen. In diesem Sinne übt gewichtiges Karma, gleichgültig ob es förderlich oder schädlich ist, einen gewaltigen Einfluß aus.

 

An zweiter Stelle hinsichtlich des Einflusses auf die Wiedergeburt steht das ‘todnahe Karma’. Damit ist eine Art geistiges Bild gemeint, das um den Todeszeitpunkt herum erscheint und gewöhnlich auf irgendeine Weise mit unseren Tätigkeiten und Interessen im Leben verbunden ist. Meistens wird hierzu das Beispiel von Schlachtern gegeben, über die es heißt, daß sie zum Zeitpunkt des Todes sehr wahrscheinlich Visionen des Schlachtens haben werden. Sie sehen dann vielleicht, wie Tiere geschlachtet werden; sie mögen ihre Schreie hören, Blut und Metzgerbeile sehen, und ein solcher Geisteszustand ist bestimmt nicht glücklich. Ein Maler dagegen wird vielleicht schöne Formen, Farben und Gestalten sehen, während Musiker vielleicht Musik hören. Doch gleichgültig, was Sie erleben werden – es hat nicht zwangsläufig mit Ihrem letzten Leben zu tun. Das Bild, das Sie zu diesem Zeitpunkt sehen, kann auch mit dem Ort Ihrer künftigen Wiedergeburt verbunden sein. Wenn Sie etwa eine sehr schöne weiße, rosa oder goldene Lotusblüte sehen, deutet dies der Überlieferung zufolge auf eine höhere Bewußtseinsebene, eine ‘Himmelswelt’ hin. Visionen von Feuer und Flammen dagegen verweisen natürlich auf Wiedergeburt an ganz anderen Orten.

 

Die dritte Gruppe von Karmas, die sich zu dieser Zeit auswirken, umfaßt die ‘gewohnheitsmäßigen Karmas’. Damit kann jede Handlung gemeint sein, die man während seines Lebens häufiger ausgeführt hat. Wahrscheinlich wird ein großer Teil unseres Lebens aus gewohnheitsmäßigem Karma gebildet, aus all den Dingen, die wir wieder und wieder tun – oftmals, ohne ihre Rückwirkung auf uns zu erkennen. Die einzelne Handlung ist dabei vielleicht belanglos und benötigt nicht viel Zeit. Führen wir sie aber täglich ein oder mehrere Male aus, dann hat sie ähnliche Wirkungen wie der berühmte Tropfen, der den Stein höhlt. Fortwährend erzeugen wir so Karma und schmieden entweder eine Art Kette, die uns fesselt, oder säen die Saat künftigen Wachstums. Dabei geht es nicht nur um die Wiederholung körperlicher Taten. Auch eine Handlung, die wir nur einmal ausführen, über die wir aber fortwährend nachdenken, indem wir sie geistig immer neu durchspielen, zählt zum gewohnheitsmäßigen Karma.

 

Das sogenannte ‘Restkarma’ bildet die vierte und letzte Gruppe von Karmas, die entsprechend der ‘Reihenfolge des Eintritts ihrer Wirkung’ unterschieden werden. Hierzu gehören alle Willenshandlungen, die unter den ersten drei Überschriften nicht gefaßt sind.

 

Zwischen Tod und Wiedergeburt, zwischen einem Leben und dem nächsten, während wir gewissermaßen an der Schwelle zögern, sind diese Karmas im Spiel und bestimmen in der gegebenen Rangfolge die Art unserer Wiedergeburt. Nach dem Abhidharma wirken die gewichtigen Karmas als erste. Steht ein gewichtiges Karma in Ihrem Soll oder Haben, dann bestimmt es vorrangig die Art Ihrer Wiedergeburt. Diese Tatsache macht die Bedeutung von Meditation in karmischer Hinsicht begreiflich. Wenn Sie in Ihrem Leben viel meditiert haben und sich dauerhaft – oder wenigstens gelegentlich oder auch nur ein einziges Mal – in einer höheren Bewußtseinsverfassung befunden haben, wenn Sie auch nur für einige Minuten Ihres Lebens wirklich auf eine höhere Daseinsstufe vorgedrungen sind, dann ist das ein Faktor, der vorrangig die Natur Ihrer nächsten Wiedergeburt bestimmen wird. Andere Faktoren kommen später zur Wirkung.

 

Wenn Sie aber in Ihrem letzten Leben kein gewichtiges, förderliches oder schädliches Karma hervorgebracht haben, wird das todnahe Karma Ihre Wiedergeburt bestimmen. Bei Fehlen von todnahem Karma wird sie vom gewohnheitsmäßigem Karma festgelegt, und beim – allerdings äußerst unwahrscheinlichen – Fehlen von gewohnheitsmäßigem Karma gibt das Restkarma den Ausschlag. (Manche Autoritäten des Abhidharma geben diese Rangfolge; anderen zufolge hat das gewohnheitsmäßige Karma den Vorrang vor todnahem Karma. Ungeachtet dieses Meinungsunterschiedes ist das Gesamtbild doch klar.)

 

Einzelne Karmas können mehreren Kategorien zugleich angehören. Ein bestimmtes Karma kann sogar auf alle bisher genannten Arten wirken. Wenn Sie beispielsweise in Ihrem Leben meditiert haben, dann ist das ein gewichtiges Karma. Reflektieren Sie nun zum Zeitpunkt Ihres Todes über diese Meditationserfahrung, dann wird sie auch zu einem todnahen Karma. Haben Sie überdies zu Lebzeiten sehr oft meditiert, dann handelt es sich um gewohnheitsmäßiges Karma. Wenn Meditation auf solche Weise Ihr gewichtiges, todnahes und auch gewohnheitsmäßiges Karma ist, dann wird sie bestimmt zu einem ausschlaggebenden Faktor hinsichtlich Ihrer nächsten Wiedergeburt. Dem Buddhismus zufolge werden Sie wahrscheinlich auf einer höheren Stufe von Bewußtheit und sogar in einer höheren Welt als bisher geboren: Sie werden im Grunde genommen als Yogi geboren, und zwar in einer Welt, die für ein Leben als Yogi besonders gut geeignet ist.

 

Die sechste Klassifizierung betrachtet Karma ‘hinsichtlich seiner Funktion’. Hiernach können wir bei den Karmas vier Tendenzen unterscheiden: Sie können ‘reproduktiv’, ‘unterstützend’, ‘unterdrückend’ und ‘zerstörend’ sein. Reproduktive Karmas sind direkt verantwortlich für die Schaffung eines neuen Lebens nach dem Tod. Hier geht es also darum, wie wir gewisse Tendenzen erzeugen, die zu einer neuen Geburt führen – nämlich durch die besondere Art und Weise, wie wir unseren Begierden, Abneigungen und unserer Verblendung frönen. Unterstützendes Karma bezieht sich darauf, wie wir solche Neigungen ausformen und verstärken. Unterdrückendes Karma bezieht sich darauf, wie die karmischen Auswirkungen unserer Taten durch andere Taten ausgeglichen, aufgewogen oder getilgt werden können. Demnach wirkt ein gewichtiges positives Karma wie meditative Sammlung in dem Sinne als unterdrückendes Karma, daß es ein gewichtiges negatives Karma wie etwa grobe Übertretungen der ethischen Vorsätze aufheben kann. Zerstörendes Karma schließlich ist jede Erfahrung von Einsicht in die höchste Wirklichkeit, die ausreichend tief und fest ist, um das negative Karma an seinen Wurzeln zu vernichten.

 

Die Überlieferung gibt ein Gleichnis für diese Klassifizierung. Reproduktives Karma wird hier mit einem in die Erde gesetzten Samen verglichen – neues Leben wird gleichsam in den Mutterleib ‘gepflanzt’. Unterstützendes Karma wirkt wie Regen und Dünger, die den Samen nähren und ihm die Kraft geben, zu wachsen und zur Pflanze zu werden. Unterdrückendes Karma gleicht dem Hagel, der ins Feld schlägt und das Korn beschädigt. Zerstörendes Karma ist wie ein Feuer, das alles Korn verbrennt und die Ernte vernichtet.

 

Die siebte und letzte Klassifikation beschreibt Karma ‘gemäß der Daseinsebene, auf der es reift’. Dies ist sehr wichtig und erneut eng mit der Frage der Wiedergeburt verknüpft. Das buddhistische Weltbild betrachtet das Universum ebenso in Kategorien von Raum und Zeit wie auch hinsichtlich dessen, was wir als seine ‘Tiefe’ oder seine ‘spirituelle Dimension’ bezeichnen können. Raum-Zeit steht für den objektiven, materiellen Aspekt der bedingten Existenz, während die spirituelle Dimension ihren geistigen, subjektiven Aspekt darstellt. Den ersten dieser Aspekte nennen wir für gewöhnlich die Welt, Sphäre oder auch Ebene unserer Existenz, während wir den zweiten als unsere Geistesverfassung oder unser Erleben dieser Existenz bezeichnen. Im Mikrokosmos des menschlichen Individuums werden diese beiden Pole oder Dimensionen von Körper und Geist repräsentiert. Dabei ist der Körper die menschliche Ganzheit innerhalb von Raum und Zeit und der Geist dieselbe menschliche Ganzheit im Sinne von Tiefe oder der spirituellen Dimension.

 

Gemeinsam mit den fünf niyamas zeichnen die sieben Klassen von Karma ein vollständiges Bild der Natur des Karma. Karma umfaßt unsere absichtlichen Willenshandlungen, die Ergebnisse, die daraus folgen und das Gesetz, das diese Aufeinanderfolge reguliert. Karma ist weder Schicksal noch Vorsehung. Genausowenig ist es das Gesetz von Ursache und Wirkung ganz allgemein. Wie die Lehre von den fünf niyamas zeigt, ist Karma nur eine – wenn auch sehr wichtige – Art der Konditionalität neben vier anderen. Deshalb ist es falsch zu sagen, daß alles, was geschieht, eine Wirkung von Karma ist. Der Buddha lehrte, daß alle Ereignisse Ergebnisse von Bedingungen sind, nicht aber, daß alle diese Bedingungen Karma sind. Karma ist nur eine von fünf Arten der Konditionalität, die im Universum wirken. Ereignisse können eine Wirkung von Karma sein – oder eben nicht. Wie wir das herausfinden können, ist eine ganz andere Frage.

 

Zweifellos löst das Konzept von Karma und Wiedergeburt weitaus mehr Fragen als es aufwirft, was aber nicht bedeutet, daß es in dieser Lehre keine offenen Fragen gibt. Meines Erachtens muß die überlieferte Doktrin gründlich umformuliert werden und einige Themen aufgreifen, die bislang im Osten anscheinend nicht erwogen wurden. Da gibt es etwa das Thema der Beziehung zwischen Karma und Wiedergeburt und Zeit, sowie zwischen Karma und Wiedergeburt und dem individuellen Bewußtsein. Karma und Wiedergeburt wirken in der Zeit – was aber ist Zeit? Karma und Wiedergeburt gehören zum individuellen Bewußtsein – was aber ist das? Weiterhin gibt es die schwierige Frage der Bevölkerungsexplosion. Wo kommen all die Menschen her? Hat es eine Art Seelenteilung gegeben? Kommen sie aus anderen Sphären, aus anderen Welten? Manche Buddhisten im Osten würden mit überlegener Miene sagen: “Selbstverständlich sind sie aus anderen Sphären und Welten gekommen. Das weiß doch jeder.�? Ist das aber die einzig mögliche Lösung? Eine neue Formulierung der traditionellen Lehre von Karma und Wiedergeburt müßte diese und ähnliche Fragen umfassend behandeln. Vielleicht wird eine solche Neuformulierung eines der Werke westlicher Buddhisten sein.

 

Überdies müssen wir zugestehen, daß viele Menschen im Westen noch eine ganze Weile lang erheblichen Widerstand gegen das Konzept von Karma und Wiedergeburt leisten werden. Wie wir sehen konnten, durchkreuzt es manche unserer Annahmen über einige unserer tiefsten Sorgen. Darum ist für viele Menschen die Frage wichtig, ob sie, um Buddhist oder Buddhistin zu sein, an Karma und Wiedergeburt glauben müssen. Die schlichte Antwort ist ‘Ja’. Eine Antwort allerdings, die vielleicht erhellender wäre, ist ‘Nein – allerdings nur unter einer Bedingung: Sie müssen nicht an Karma und Wiedergeburt glauben, wenn Sie willens sind, in diesem Leben alle Ihre Bemühung auf die volle Erleuchtung zu richten.’ Diese Behauptung trifft bestimmt zu und wird vermutlich manche Leute auch befriedigen. Zugleich aber zeigt sie, wie schwierig es sein kann, den Buddhismus ernsthaft zu praktizieren, ohne Karma und Wiedergeburt gewissermaßen als Teile der eigenen geistigen Ausrüstung anzunehmen.

 

Die Lehre von Karma und Wiedergeburt hilft, das Mysterium des Todes zu lösen, das zugleich das Mysterium des Lebens ist. Nur wenige Menschen können dem Pfad zur Erleuchtung folgen, ohne sich wenigstens gelegentlich Fragen nach diesem Mysterium zu stellen. Wer Karma und Wiedergeburt nicht als Antwort akzeptiert, muß eine andere finden, was nicht leicht sein wird. Ich halte die Lehre von Karma und Wiedergeburt für die befriedigendste Antwort auf viele der Fragen, die durch das Faktum des Todes und die Eigenart menschlichen Lebens und menschlicher Existenz gestellt sind. Sie ist nicht nur wahr, sondern sie gibt dem Leben einen Sinn und Zweck. Sie stellt klar, daß wir Menschen Pilger in einer Aufeinanderfolge von Leben sind und daß wir unser Schicksal durch die Veränderung unseres Bewußtseins – was nach buddhistischer Auffassung durchaus in unserer Macht liegt – nicht nur in diesem, sondern auch in zukünftigen Leben selbst bestimmen können. Das heißt: Echte Bemühung ist nie verschwendet. Das Gute wird von Leben zu Leben bewahrt. Dabei gibt es weder Belohnung noch Bestrafung. Indem wir bewußte Willenshandlungen ausführen, verändern wir hier, jetzt und für die Zukunft unser eigenes Bewußtsein – und das allein ist sicherlich genug Lohn oder Strafe.

 

Der Überlieferung nach wird die Wahrheit der Lehre von Karma und Wiedergeburt im Licht höherer Bewußtseinsstufen klar, zumal auf jener höchsten aller Bewußtseinsstufen, die so hoch ist, daß man sie eigentlich nicht mehr als ‘Bewußtseinsstufe’ bezeichnen kann: die Erleuchtung eines Buddha. In Asien geht man davon aus, daß es manche Wahrheiten gibt – wir können sie vielleicht ‘spirituelle Wahrheiten’ nennen –, die der gewöhnliche, rationale Geist nicht erfassen kann.

 

Eine solche Ansicht finden wir im Westen gewöhnlich völlig unannehmbar. Wir setzen als selbstverständlich voraus, daß alles, was verstanden werden kann, auch für den gewöhnlichen ‘Alltagsverstand’ verständlich und sichtbar ist. Die östliche und besonders die indische Überlieferung behauptet aber, daß es einige Wahrheiten – wenn man will, einige Gesetze oder Prinzipien – gibt, die der normale Menschenverstand nicht begreifen kann. Wer sie verstehen will, muß seine Bewußtseinsstufe in ähnlicher Weise anheben, wie man einen Berg erklimmt, um eine weite Aussicht zu genießen. Buddhisten glauben, daß wir, wenn wir den Gipfel unseres eigenen Bewußtseins erklimmen, spirituelle Wahrheiten sozusagen vor uns ausgebreitet sehen, die wir mit unserer gewöhnlichen Bewußtseinsverfassung nicht wahrnehmen können.

 

Als eine solche Wahrheit gilt in der indischen Überlieferung die Lehre von Karma und Wiedergeburt. Das normale, rationale Bewußtsein kann sie nicht erfassen. Wir mögen wohl eine Erklärung dieser Lehre verstehen, doch können wir ihre Wahrheit nicht unmittelbar einsehen. Nur ein Buddha nimmt Karma und Wiedergeburt in allen ihren Einzelheiten, in ihrem Wirken und in allen Verzweigungen wahr.

 

Allerdings haben die buddhistischen Weisen und Yogis im Laufe der mehrtausendjährigen Entwicklung des Buddhismus die Wahrheit von Karma und Wiedergeburt bezeugt. Interessanterweise wurde sie von keiner Schule des Buddhismus und von keinem bekannten buddhistischen Lehrer je bezweifelt. Als die großen Yogis und Meditationsmeister im eigenen spirituellen Verständnis und in ihrer Einsicht reiften, haben sie die Wahrheit dieser Lehre immer klarer erkannt. Vielleicht war ihre Wahrnehmung weniger umfassend als die des Buddha, doch sahen sie genug, um sich von der Wahrheit dieser Lehre zu überzeugen. Deshalb akzeptiert man in Asien die Evidenz der überbewußten Wahrnehmung des Buddha und anderer erleuchteter Lehrer als überzeugenden Beweis für die Wahrheit von Karma und Wiedergeburt. Für praktizierende Buddhisten müßte das als Basis des Vertrauens genügen, bis sie selbst eines Tages die Wahrheit von Karma und Wiedergeburt direkt erkennen werden.

 

Der Buddha unterrichtete die Doktrin von Karma und Wiedergeburt nicht als eine philosophische, logisch begründete Lehre, sondern als etwas, das er selbst erlebt und gesehen hatte. Als er in der Nacht seines Erwachens unter dem Bodhibaum saß, sah er wie in einem Blitz der Erleuchtung die ganze Folge seiner früheren Existenzen aufscheinen – zigtausend früherer Leben. Mehr noch: Er konnte erkennen, wie sich die früheren Leben anderer Wesen in die Vergangenheit zurück erstreckten, und in dieser Nacht – wie auch später, wann immer er es wünschte – konnte er auch ihre zukünftigen Existenzen sehen. Diese Fähigkeit oder das Vermögen, eigene und anderer Menschen frühere Leben zu sehen, nennt man purvanivasasmriti, ‘Vergegenwärtigung der früheren Wohnstätten’. Sie ist eine der fünf beziehungsweise sechs abhijnas oder ‘höheren Geisteskräfte’. Es heißt, daß alle, die sich darum bemühen, sie durch ihre eigene Übung von Meditation entwickeln können.

 

(Mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Alfred Weil aus: Karma, Berlin 1996, S. 91-116)