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Buddha
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Der Sieg des Buddha

Ähnlich wie andere spirituelle Überlieferungen hat auch der Buddhismus zwei Seiten: eine eher ‚volkstümliche‘, im Sinne einfacher täglicher Übungen und religiöser Pflichten, und eine eher ‚philosophische‘, die bestrebt ist, die Lehre in ihrer ganzen Tiefe zu ergründen. Zum volkstümlichen Aspekt gehören beispielsweise die Feier- und Gedenktage. Ein Blick auf den buddhistischen Kalender zeigt ziemlich viele verschiedenartige Feste. Dabei gibt es zwar manche Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen der buddhistischen Welt, doch werden die wichtigsten Feste von allen Buddhisten überall in der Welt gefeiert. Die drei bedeutendsten Feste gelten natürlich den Drei Juwelen.

 

Im allgemeinen betrachtet man Juwelen als die wertvollsten materiellen Dinge. Entsprechend gelten Buddha, Dharma und Sangha als die höchsten nicht-materiellen Werte. Weil sie so kostbar sind, freut man sich, wenn man sie besitzt; sie geben dem Leben Sinn und Richtung und bieten dem einzelnen Orientierung in allen Belangen seines Lebens.

 

[...]

 

Der Feiertag für den Buddha ist nicht nur als vesakh (oder vaischakha) bekannt, sondern – in Indien – auch als Buddha-jayanti. Jayanti geht auf das Wort jaya zurück, was ‚Sieg‘ heißt. Buddha-jayanti bedeutet deshalb, den ‚Sieg des Buddha‘ zu feiern. Nur – inwiefern ist die Erleuchtung des Buddha ein Sieg? Das Wort ‚siegen‘ legt gewöhnlich nahe, dass man über jemanden oder über etwas siegt. Wer oder was könnte das im Fall des Buddha gewesen sein? Die Antwort ist einfach: Der Buddha überwand Mara, den ‚Bösen‘, und nachdem er Mara besiegt hatte, erlangte er Erleuchtung. In gewisser Hinsicht war sein Sieg über Mara, der sogenannte Mara-vijaya, zugleich sein Durchbruch zur Erleuchtung.

 

Möglicherweise sind Ihnen schon Beschreibungen von diesem Sieg über Mara untergekommen. Vielleicht haben Sie auch ein Bild der Szene gesehen. Die buddhistische Kunst zeigt den Noch-nicht-Buddha, wie er auf einer Streu kusa-Gras unter den ausladenden Ästen des ficus religiosus oder heiligen Feigenbaums sitzt – unter jenem Baum, den man zu seinen Ehren später bodhi-Baum oder ‚Baum der Erleuchtung‘ nannte. Tausende Furcht erregender Wesen, die allesamt grässlich missgestaltet und entstellt sind, umringen ihn von allen Seiten. Einige schwingen riesige Knüppel über dem Kopf, andere speien Feuer, und wieder andere sind gerade dabei, mächtige Felsbrocken, ja sogar ganze Berge auf ihn zu schleudern, die sie aus der Erdtiefe herausgerissen haben; noch andere schießen Pfeile auf ihn ab. Das sind Maras Heerscharen. Mara selbst steht ein wenig abseits und befehligt den Angriff seiner schrecklichen Streitmacht. Der Buddha aber nimmt von all dem überhaupt keine Notiz. Eine Aura warmen, goldenen Lichts umgibt ihn, und alle Geschosse, die diese Aura berühren, verwandeln sich in Blumen und fallen dem Buddha zu Füßen, so als würden sie ihn unwillentlich verehren. Der Buddha verweilt ganz ungerührt in seiner Meditation. Er lässt sich nicht einmal dadurch ablenken, dass Mara seine drei Töchter herbeiruft und auffordert, sehr verführerische Tänze aufzuführen. Schließlich muss Mara sich geschlagen geben. Sein Heer rückt ab, und seine Töchter ziehen sich verstört zurück. Der Buddha sitzt wieder allein unter dem Bodhibaum auf dem Kissen aus kusa-Gras und meditiert. Und indem er so dort sitzt, erlangt er Erleuchtung.

 

So verlief in etwa diese berühmte Episode. Und genau wie andere Ereignisse im Leben des Buddha, kann man auch sie missverstehen. Wir mögen wohl erkennen, dass sie symbolisch gemeint ist, doch wissen wir vielleicht nicht, dass diese Geschichte vom Sieg über Mara, vom Mara-vijaya, keineswegs die einzige Begebenheit dieser Art ist und vor allem dass es auch nicht der einzige Sieg war, den der Buddha errungen hat.

 

Der Mara-vijaya ist vielmehr der Höhepunkt einer ganzen Reihe von Siegen. Und das ist eigentlich gar nicht anders zu erwarten. Denn es ist geradezu typisch für das spirituelle Leben, dass man vollkommene Weisheit oder grenzenlos mitfühlendes Erbarmen nicht von heute auf morgen entwickelt. Genauso wenig entwickelt man die unerschöpfliche Kraft und den Heldenmut, die nötig sind, um Mara mitsamt seinen Heerscharen zu schlagen, über Nacht. Spirituelle Qualitäten sprießen nicht plötzlich hervor, sondern wachsen allmählich. Der Buddha selbst sagt im Dhammapada:

 

 

Wenn tropfenweise Wasser fällt,

füllt sich der ganze Wasserkrug.

Und wenn er’s Gute langsam häuft,

der Weise sich mit Gutem füllt.

 

 

 

Vor dem großem Sieg des Buddha wird es manch kleineren Sieg gegeben haben, sonst wäre der große Sieg kaum möglich gewesen. Mit einigen dieser ‚kleineren‘ Siege werden wir uns jetzt befassen. Dabei greifen wir verschiedene Episoden auf, die wir schon im letzten Kapitel beschrieben haben. Diesmal aber beleuchten wir sie als Siege. Als ‚klein‘ erscheinen sie allerdings nur, wenn man sie mit dem großen Sieg über Mara vergleicht. Für sich betrachtet, ist jeder dieser bescheideneren Siege selbst von einer Größe, die wir uns vielleicht nur schwer ausmalen können.

 

Der – soweit wir wissen – erste Sieg des Buddha wird gewöhnlich als sein ‚Aufbruch‘ vom häuslichen Leben in die Hauslosigkeit beschrieben. Dieses Ereignis als einen Sieg zu betrachten, mag ungewöhnlich erscheinen, aber genau das war es. Stellen Sie sich einmal vor, Sie selbst wären Sohn oder Tochter reicher Eltern in einer hohen sozialen Stellung mit dem entsprechenden Prestige. Stellen Sie sich vor, Sie seien jung, gesund und sähen gut aus. Außerdem seien Sie glücklich verheiratet und hätten vielleicht ein Kind. Hätten Sie es dann leicht gefunden, das alles aufzugeben? Wären Sie dazu fähig gewesen, für etwas ‚aufzubrechen‘, das Sie noch nicht einmal kennen, um der ‚Wahrheit‘ willen oder um etwas ‚Höheres‘ zu finden, etwas jenseits von allem, was Sie bisher erlebt oder sich vorgestellt haben? Genau das ist es, was Siddhartha, der spätere Buddha, tat.

 

Es gibt verschiedene Schilderungen, die von seinem Aufbruch berichten, von denen manche sehr bildhaft und romantisierend sind. Da wird etwa geschildert, wie Siddhartha einen Vorhang in den Gemächern seines Palastes anhob, um einen letzten, innigen Blick auf seine friedlich schlafende Frau und seinen kleinen Sohn zu werfen. Wir erfahren, wie die Götter der verschiedenen Himmel leise die Tore öffneten, so dass er fortgehen konnte, ohne gesehen oder gehört zu werden. Und wir lesen, dass diese Götter ihre Handflächen unter die Hufe seines Pferdes hielten, damit ja kein Geräusch entstünde. Die älteste Schilderung ist demgegenüber äußerst schlicht. Als der schon hoch betagte Buddha einmal aus seinem Leben erzählte, sagte er bloß dies zu seinen Schülern:

 

 

 

Und nach einiger Zeit, als ich noch jung und dunkelhaarig war, in der ersten Jugendkraft, ließ ich mir gegen den Willen meiner weinenden Eltern Haar und Bart scheren, zog ein gelbes Gewand an und ging aus dem Hause in die Heimatlosigkeit.

 

 

 

Es spielt keine Rolle, ob die Beschreibung des Aufbruchs ausgeschmückt oder schlicht ist. Das tatsächliche Geschehen wird hinreichend deutlich: Der zukünftige Buddha verließ sein Zuhause. Er verließ seine Familie, das heißt, er verließ die Gesellschaft und die soziale Gruppe, die ihn geprägt und sein Erleben, Denken und Handeln bis in Einzelheiten hinein bestimmt hatten.

 

Inwiefern aber war das ein Sieg? Worüber hatte er gesiegt? Es war ein Sieg über die ‚Familie‘ oder vielmehr die Gruppe schlechthin, wie sie zunächst von seinen Eltern vertreten wurde. Wie der Buddha selbst sagte, brach er „gegen den Willen“ seiner weinenden Eltern auf.

 

Auch in einem noch weiter gefassten Sinn war es ein Sieg. Siddhartha hatte sein eigenes Anhaften an der Zugehörigkeit zu einer Gruppe überwunden. Ganz bestimmt fiel es ihm nicht leicht, seine Familie zu verlassen. Bis er aufzubrechen vermochte, musste er lange innere Kämpfe ausfechten. Schließlich aber konnte er sich von seiner Gruppenzugehörigkeit befreien. Das hieß aber nicht, dass er die ‚Gruppe‘ nur körperlich verließ. Es bedeutete auch, dass er die damit verbundenen Gruppeneinstellungen und -konditionierungen überwand, dass er die Initiative ergriff und das tat, was er selbst tun wollte. Es hieß, selbständig zu denken und alles am eigenen Leib zu erfahren. Er lebte von nun an sein eigenes Leben und war ein wirkliches Individuum geworden. Insofern ist der ‚Aufbruch‘ aus dem häuslichen Leben ein Sieg über die ‚verinnerlichte‘ Identifikation mit einer Gruppe.

 

Nachdem Siddhartha in die Hauslosigkeit aufgebrochen war, suchte er zwei berühmte spirituelle Lehrer auf. Beide waren offenbar gute, edel gesinnte Männer, die ihn alles lehrten, was sie selber wussten und für die höchste Wahrheit hielten. Siddhartha war ein sehr guter Schüler, der eine leichte Auffassungsgabe hatte. Was immer sie ihm beibrachten, setzte er in eigene Erfahrung um, und bald schon war er ihnen ebenbürtig. Als sie das sahen, boten sie ihm an, sich mit ihnen die Führung ihrer Gemeinschaften zu teilen. Doch Siddhartha schlug ihre Angebote aus, verließ sie und wanderte wieder alleine weiter.

 

Auch das war ein Sieg, und zwar ein Sieg über spirituelle Selbstzufriedenheit und spirituellen Ehrgeiz. Alles, was seine Lehrer ihm an Unterweisungen geben konnten, hatte Siddhartha in eigene Erfahrung umgesetzt. Doch wusste er, dass es ‚darüber hinaus‘ noch etwas anderes gab, etwas Höheres, das er noch nicht erkannt hatte – das er aber erkennen wollte. Seine Lehrer mochten es wohl anders sehen, ihm selbst hingegen war klar, dass er noch nicht erleuchtet war. Er gab sich nicht mit einer beschränkten spirituellen Erfahrung zufrieden, auch wenn es sich dabei um das Erleben einer nach gewöhnlichen Maßstäben sehr hohen Bewusstseinsebene handeln mochte. Es war aber nicht die höchste Stufe, und das wusste er. In diesem Sinn überwand er spirituelle Selbstzufriedenheit. Zudem hatten ihm seine Lehrer sogar angeboten, die Leitung ihrer jeweiligen Gemeinschaft mit ihnen zu teilen. Welche Chance für einen jungen Mann! Auch das lehnte Siddhartha ab. Ihm lag nichts an einer Führungsposition. Ihm ging es um Wahrheit, um Erleuchtung. Auf diese Weise besiegte er spirituellen Ehrgeiz.

 

Es ist sehr aufschlussreich, dass Siddhartha spirituelle Selbstzufriedenheit und spirituellen Ehrgeiz gleichzeitig überwand. In der Tat sind beide eng miteinander verbunden. Wer in spiritueller Hinsicht ehrgeizig ist, das heißt, nach einer spirituellen Führungsposition strebt, ist voraussichtlich auch für spirituelle Selbstzufriedenheit anfällig. Und umgekehrt: Wer in spiritueller Hinsicht selbstzufrieden ist, wird wahrscheinlich nach einer spirituellen Führungsposition streben, um dadurch seinen Mangel an echtem spirituellen Einsatz zu kompensieren.

 

Siddhartha, der damit bei seiner Suche wieder ganz auf sich gestellt war, entschied sich, in der Waldeinsamkeit weitab von menschlichen Siedlungen zu leben. Er suchte Gegenden auf, die selbst Menschen, die sich ganz dem spirituellen Leben verschrieben hatten, unwirtlich und unheimlich fanden: Plätze, die wir vielleicht ‚Spukorte‘ nennen würden und von denen der Volksmund sagte, dass dort Geister und Gespenster hausten – Orte also, wo sehr leicht Furcht und Schrecken aufkommen. Auch Siddhartha erlebte solche Gefühle des Grauens, der Angst und des Schreckens. Was aber tat er in solchen Fällen? Wenn beispielsweise beim Auf- und Abgehen Furcht und Schrecken in ihm aufstiegen, dann ging er einfach solange weiter, bis diese Gefühle überwunden waren. Weder rannte er weg, noch versuchte er, ihnen auszuweichen. Und genauso verhielt er sich, wenn derartige Gefühle beim Sitzen oder Liegen aufkamen: Er betrachtete sie und überwand sie. Auf diese Weise besiegte er die Furcht.

 

Natürlich erleben auch heute viele Menschen – ganz besonders, wenn sie allein sind – Gefühle von Angst und Schrecken, Furcht und Grauen oder zumindest eine gewisse Ängstlichkeit. Doch wo und wie auch immer solche Gefühle in uns aufsteigen mögen, wir müssen uns ihnen stellen. Weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinn sollten wir vor ihnen weglaufen. Wer sich diesen Gefühlen stellt, wird sie schließlich überwinden, so wie auch Siddhartha sie überwand.

 

Er hatte damit zwar seine Furcht besiegt, Erleuchtung hatte er aber noch immer nicht erlangt. Nun begann er, sich den schon erwähnten extremen Selbstkasteiungen zu unterziehen. Die buddhistischen Schriften geben über die verschiedenen Qualen, die er sich zumutete, detailliert Auskunft. Für uns genügt seine eigene Aussage aus späterer Zeit, dass sich nie zuvor ein Mensch solch außerordentlichen Kasteiungen unterzogen hatte. Er wäre sogar beinahe daran gestorben. Doch immerhin gab es eine Art Entschädigung: Er wurde berühmt. Damals glaubte man nämlich, durch Selbstkasteiung könne man Erleuchtung erlangen – je extremer, um so wirksamer. Im letzten Kapitel haben wir von den fünf Schülern gehört, die bei ihm bleiben wollten, bis er eines Tages die Frucht seiner Selbstkasteiung erntete.

 

Doch auf diese Art wurde Siddhartha nicht erleuchtet. Wie es scheint, blieb er von Erleuchtung so weit entfernt wie eh und je. Deshalb gab er die Selbstkasteiung, nachdem er sie immerhin jahrelang praktiziert hatte, auf und nahm zum Entsetzen seiner Schüler wieder feste Nahrung zu sich. Daraufhin verließen sie ihn. In ihren Augen war er ein Schwächling, der sich wieder seinem alten Luxusleben zugewandt hatte. Wieder war Siddhartha allein.

 

Auf den ersten Blick mag das als eine Niederlage erscheinen; in Wahrheit aber war es ein großer Sieg. An diesem Punkt überwand Siddhartha nämlich die allzu menschliche Neigung, nicht zugeben zu wollen, dass man sich geirrt hat, dass man einem falschen Weg gefolgt war und nun zurückgehen muss, um wieder von vorne anzufangen. Wenn wir erst einmal viel Energie aufgewendet haben – von Zeit, Geld und all den anderen Dingen ganz zu schweigen –, fällt es uns nicht leicht zuzugeben, dass die ganze Anstrengung in gewisser Weise umsonst war. Nicht einmal uns selbst gegenüber wollen wir so etwas eingestehen. Siddhartha aber machte das nichts aus. Es kümmerte ihn nicht, seine Schüler zu verlieren, und es störte ihn auch nicht, wieder allein zu sein. Es wäre ihm vergleichsweise leicht gefallen, sich weiter zu kasteien, noch berühmter zu werden und immer mehr Schüler um sich zu scharen. Statt dessen aber gestand er sich ein, dass er sich geirrt hatte und führte seine Suche fort.

 

Zuletzt führte ihn sein Weg an den Fuß des Bodhibaums. Wie wir schon gehört haben, setzte er sich dort nieder und wurde von Mara und seiner Streitmacht angegriffen.

 

Wer oder was aber ist Mara? Ich habe schon erwähnt, wie der Sieg über Mara in der buddhistischen Kunst dargestellt wird. Nun aber möchte ich etwas näher darauf eingehen, was Mara denn bedeutet – auch wenn die Symbolik, die wir in den Darstellungen finden, eigentlich für sich selbst spricht. Denn wer nicht begreift, wofür er steht, kann den tieferen Sinn des Mara-vijaya, also des Siegs des Buddha über Mara, nicht wirklich verstehen.

 

Das Wort Mara bedeutet ‚töten‘, ‚zerstören‘, ‚Tod und Verderben bringen‘. Mara verkörpert demnach das Prinzip der Zerstörung, und als solches wird es manchmal in personifizierter Gestalt dargestellt, so dass es in den buddhistischen Schriften nicht weniger als vier Maras gibt. Es sind dies (in Pali) maccu-Mara, khandha-Mara, kilesa-Mara und devaputta-Mara. Auf jeden dieser Maras werden wir nun eingehen.

 

Zunächst betrachten wir maccu-Mara: Dieser Mara bedeutet einfach Tod oder Zerstörung. Der Tod kommt natürlich meistens ungebeten. Manchmal sind die Menschen wirklich überrascht, wenn er da ist, obwohl sie doch eigentlich wissen müssten, dass es irgendwann soweit ist. Weil der Tod so wenig willkommen ist, hält man ihn meist für ein Übel. Aber eigentlich ist er weder gut noch schlecht: Er gehört einfach zu den Grundtatsachen des Daseins und muss als solche anerkannt werden. Genau das verkörpert maccu-Mara.

 

Zweitens – nun wird es etwas metaphysischer – gibt es khandha-Mara. Dieser Mara ist eine Art erweiterter maccu-Mara. Er erinnert daran, dass Tod nichts Abstraktes oder nicht nur ein Wort ist. Es geht um eine konkrete Wirklichkeit. Tod bedeutet, dass es da Dinge und Lebewesen gibt, die sterben oder zerstört werden. Und diese sterbenden beziehungsweise vergehenden Dinge und Lebewesen bilden gewissermaßen gemeinsam eine Welt. Anders gesagt: Es gibt eine Welt, die der Macht des Todes unterliegt. Das ist die Welt der khandhas (Skt. skandhas) oder ‚Daseinsgruppen‘, wie das Wort oft übersetzt wird. Es gibt fünf solche khandhas oder skandhas: Körperlichkeit (rupa), Gefühlsempfindung (vedana), Wahrnehmung (sannja), Willensregungen (sankhara) und Bewusstsein (vinjana,). Diese fünf khandhas sind ziemlich bekannt – wenn man sich ein wenig mit Buddhismus befasst hat, wird man sie wahrscheinlich kennen. Zusammen genommen machen die khandhas die ganze bedingte Existenz aus, das weltliche Dasein, die ‚relative Wirklichkeit‘ oder – mit dem überlieferten Begriff – den Samsara. Das ist es, was khandha-Mara verkörpert.

 

Drittens gibt es kilesa-Mara. Der Stamm des Wortes kilesa (Skt. klesa) bedeutet ‚anhaften‘ oder ‚an etwas kleben‘ und ist mit dem Wort für ‚Schleim‘ verwandt. Kilesa bedeutet ‚Fleck‘, ‚Beschmutzung‘ oder ‚Unreinheit‘. In einem moralischen Sinn ist damit ‚Verderbtheit‘, ‚Gier‘ oder ‚Leidenschaft‘ gemeint. Ganz allgemein ausgedrückt entspricht kilesa dem, was man auch ‚schädliche Geistesverfassungen‘ (P. akusala-citta oder akusala-cittani) nennt. Die fünf wichtigsten kilesas oder ‚Befleckungen‘, wie sie im Deutschen gewöhnlich heißen, sind Verlangen, Abneigung, Unwissenheit, Dünkel und Zerstreutheit. Die ersten drei – Verlangen, Abneigung und Unwissenheit – entsprechen den drei ‚Wurzeln des Schädlichen‘ oder akusala-mulas. Im Zentrum des tibetischen Lebensrads werden sie durch die Bilder des Hahns, der Schlange und des Schweins verkörpert, die miteinander das Rad in seiner ständigen Drehung halten. Wir können diesen Sachverhalt auch so ausdrücken: Weil diese drei kilesas unseren Geist beherrschen, werden wir in der Welt der bedingten Existenz, dem Samsara, wiedergeboren. Damit aber befinden wir uns in jener Welt, die der Macht des Todes unterworfen ist. Das ist mit kilesa-Mara gemeint.

 

Schließlich gibt es noch devaputta-Mara. Deva bedeutet ‚Gott‘ – allerdings nicht ‚Schöpfergott‘ – und putta ‚Sohn‘. Ein devaputta ist demnach der ‚Sohn eines Gottes‘, also ebenfalls ein Gott – so, wie ein Menschensohn ein Mensch ist. Devaputta-Mara ist Mara in Gestalt eines tatsächlich existierenden Wesens, einer wirklichen Person. Dieser ist es, der in der Episode vom Sieg des Buddha über Mara auftritt. Manchmal wird devaputta-Mara bloß als eine Personifizierung der kilesas oder Befleckungen angesehen, aber darauf sollte man ihn eigentlich nicht reduzieren. Wie die meisten Wesen im Samsara, dem ewigen Daseinskreislauf, ist auch er von den Befleckungen beherrscht; zugleich aber kommt ihm ein eigenes Dasein und eine eigene Stellung im Universum zu. In der buddhistischen Mythologie nimmt er einen besonderen Platz ein.

 

Aus traditionell buddhistischer Sicht besteht das Universum aus verschiedenen Sphären und Welten. Diese werden als objektive Gegenstücke – oder Entsprechungen – der Geistesverfassungen verstanden, die ihrerseits sowohl positiv als auch negativ sein können. So, wie es eine ‚Welt‘ der Menschen gibt, kennt die buddhistische Kosmologie auch eine ‚Welt‘ der Tiere, eine ‚Welt‘ der Götter, eine ‚Welt‘ der Dämonen und so weiter. Einer dieser Welten nun gehört Mara an, und zwar einer der unteren Himmelswelten. Dieser Himmel ist zwar von relativ niedrigem Rang, doch wird er von Mara regiert, der damit auch der Herrscher über alle darunter liegenden Welten ist, die zum so genannten kamaloka oder zum ‚Reich des sinnlichen Begehrens‘ gehören. Dazu zählt auch unsere Menschenwelt. In einem viel weiteren Sinn regiert Mara natürlich über das gesamte Universum, über die ganze bedingte Existenz, denn diese ist dem Tod unterworfen, den Mara in erster Linie verkörpert. Ganz speziell aber herrscht er über den kamaloka, das Reich des sinnlichen Begehrens.

 

Um verstehen zu können, warum das so ist, müssen wir zunächst einmal wissen, dass über der Ebene des sinnlichen Verlangens und Erlebens der so genannte rupaloka, die ‚Welt archetypischer Formen‘ liegt. Diese Welt entspricht den verschiedenen Zuständen, die der Geist in einem höheren meditativen Bewusstsein erreicht. Von ihnen oder vom r¨paloka aus ist es möglich, Erleuchtung zu erlangen. Vom kamaloka aus ist das nicht möglich. Deshalb liegt Mara sehr viel daran, die Menschen davon abzuhalten, den rupaloka zu erreichen und so dem kamaloka zu entfliehen. Aus diesem Grund versuchte Mara, die Meditation des Buddha unter dem Bodhibaum mit Hilfe seiner Streitmacht und seiner Töchter zu stören. Vielleicht versucht er gelegentlich, auch Ihre Meditation zu stören. Möglicherweise ist jene plötzlich in Ihrem Geist auftauchende Ablenkung oder das kleine Jucken, das Sie ausgerechnet dann irritiert, wenn Ihre Konzentration sich zu vertiefen beginnt, ein Werk von Mara?

 

Das bisher über Mara Gesagte hat wahrscheinlich schon deutlich gemacht, worüber der Buddha eigentlich gesiegt hat. Wenden wir uns daher wieder dem Mara-vijaya (Sieg über Mara) selbst zu. Wie wir gesehen haben, gibt es vier Maras: maccu-Mara, khandha-Mara, kilesa-Mara und devaputta-Mara. Der Buddha hat sie alle bezwungen; sein Sieg ist also ein vierfacher Sieg, den wir nun in seinen einzelnen Phasen betrachten.

 

Wie hat der Buddha maccu-Mara besiegt? Wie bezwang er den Tod? Er besiegte den Tod, indem er die Geburt überwand, da auf jede Geburt unweigerlich der Tod folgt. Die Geburt aber besiegte er, indem er jene schädlichen Geistesverfassungen überwand, die zu Geburt – oder besser gesagt zum ‚Wiederwerden‘– führen. Noch anders ausgedrückt siegte der Buddha über den Tod, indem er jenen Zustand erreichte, den man auf Pali amata-pada nennt, den ‚Ort der Todlosigkeit‘. Damit ist ein Zustand gemeint, der frei von Tod und frei von Geburt ist – Nirvana. Der Buddha überwand den Tod, indem er Erleuchtung erlangte, also einen Zustand über und jenseits aller bedingten Existenz. Das bedeutet aber nicht, dass der Buddha nach seiner Erleuchtung nicht mehr in der Menschenwelt wiedergeboren werden könnte – wenn er es wollte. Allerdings würde er nicht mehr zwangsläufig, d. h. als Ergebnis seines früheren Handelns oder seines Karmas, wiedergeboren. Falls er überhaupt noch einmal geboren würde, dann geschähe es aus Erbarmen, um gewöhnlichen nicht erleuchteten Menschen weiterhin zu helfen.

 

Wie hat der Buddha khandha-Mara besiegt? Wie überwand er die bedingte Existenz? Er überwand sie, indem er die kilesas vernichtete, jene Befleckungen, die zur bedingten Existenz führen. In dem Moment, als er Erleuchtung erlangte, zerstörte er die kilesas. Beides ist in gewissem Sinn ein und dasselbe. Die Überlieferung betont allerdings, dass der Buddha die khandhas erst fünfundvierzig Jahre später bei seinem parinirvana endgültig überwand. Zum Zeitpunkt des parinirvana durchschnitt er alle Verbindungen mit dem physischen Körper oder den khandhas. Deshalb wird das parinirvana auch khandha-nirvana oder anupadisesa-nirvana genannt, was ‚Nirvana ohne Überrest in Form eines physischen Körpers‘ bedeutet.

 

Wie aber ist es dem Buddha gelungen, die kilesas zu überwinden? Dieser Punkt ist ganz zentral. Wie wir gesehen haben, gibt es fünf grundlegende kilesas: Verlangen, Abneigung, Unwissenheit, Dünkel und Zerstreutheit. Der Buddha besiegte Verlangen mit innerem Frieden, Abneigung mit Herzensgüte und tiefem Mitgefühl, Unwissenheit mit Weisheit, Dünkel mit Selbstlosigkeit, Zerstreutheit mit Gewahrsein oder Achtsamkeit. Selbst für den Buddha war das nicht leicht. Innere Stille, Herzensgüte, tiefes Mitgefühl und dergleichen erscheinen nicht einfach von selbst – auch dann nicht, wenn man unter dem Bodhibaum sitzt. Diese Qualitäten müssen entwickelt werden, und wir sind dazu auch in der Lage. Die Tatsache, dass wir das können, ist eine der zentralen Lehren des Buddhismus. Ihr zufolge liegen die Verfassungen unseres Geistes in unserer eigenen Macht, und wir können sie verändern. Mehr noch, der Buddhismus mahnt uns nicht nur, sie zu verändern, sondern er beschreibt auch, wie wir das im einzelnen tun können; er gibt uns dafür zum Beispiel gezielte Meditationsmethoden an die Hand.

 

Es gibt drei sogenannte ‚Betrachtungen‘, die helfen, inneren Frieden zu entwickeln. Dabei übt man die Betrachtung der Widerwärtigkeit des physischen Körpers, die Betrachtung des Todes und die Betrachtung von Unbeständigkeit.

 

Die erste Methode, die Betrachtung der Widerwärtigkeit des physischen Körpers, ist die extremste der drei. Hier kontempliert man gewöhnlich die zehn Stadien des Verfalls einer Leiche. Es ist wichtig, hier ausdrücklich zu betonen, dass normalerweise nur psychisch und spirituell reife Menschen in dieser Praktik unterwiesen werden. Die beiden anderen Methoden sind weniger extrem und werden deshalb auch häufiger gelehrt. Ganz gleich, welche Sie auch üben mögen, ob die Betrachtung des Todes, der Unbeständigkeit oder der Widerwärtigkeit des physischen Körpers, mit Hilfe einer solchen Betrachtung können Sie zu innerem Frieden finden. Und indem Sie inneren Frieden entwickeln, besiegen Sie Verlangen.

 

Herzensgüte und tiefes Mitgefühl wachsen durch die ‚Entfaltung allumfassenden Wohlwollens‘, die metta-bhavana. In dieser Übung entwickeln Sie auf systematische Weise Wohlwollen zunächst für sich selbst, dann für einen guten Freund, eine ‚neutrale‘ Person, einen ‚Feind‘ und schließlich für alle Lebewesen. Die metta-bhavana ist eine der bekanntesten und beliebtesten buddhistischen Meditationsmethoden. Mit ihrer Hilfe entfalten Sie von Herzen kommende Freundlichkeit und Erbarmen, und indem Sie immer freundlicher und mitfühlender werden, überwinden Sie Abneigung.

 

Mit der Betrachtung der zwölf nidanas oder ‚Bindeglieder‘ können Sie Weisheit entwickeln. Eine detaillierte Erörterung dieser komplexen Meditationsmethode ist an dieser Stelle nicht möglich; ich habe sie in anderen Büchern ausführlich dargestellt Ganz allgemein gesagt können Sie Weisheit entwickeln, indem Sie über die Bedingtheit der weltlichen Existenz reflektieren, über die Tatsache, dass jedes weltliche Phänomen nur in Abhängigkeit von bestimmten Ursachen und Bedingungen auftaucht beziehungsweise ins Dasein tritt. Die Reflexion über die Bedingtheit der weltlichen Existenz ist im Ergebnis mehr oder weniger identisch mit den Reflexionen über sunyata oder ‚Leerheit‘. Alle diese Methoden können Ihnen helfen, Weisheit zu entwickeln. Und indem Sie Weisheit entwickeln, besiegen Sie Unwissenheit.

 

Selbstlosigkeit, im Sinne des Aufgebens der Idee von einem beständigen Selbst, kann man durch die ‚Betrachtung der sechs Elemente‘ fördern. Diese Elemente sind Erde, Wasser, Feuer, Luft, Raum und Bewusstsein. Im Kapitel Blüten in Kusinagara werde ich auf diese Meditationsmethode ausführlicher eingehen. Jetzt soll es genügen, am Beispiel des Elements Erde einen kurzen Eindruck zu vermitteln. In dieser Meditation reflektieren Sie, dass es das Element Erde in Ihrem eigenen Körper in Form von Fleisch, Knochen und so weiter gibt. Dann denken Sie daran, dass das Erdelement in Ihrem Körper nicht wirklich Ihnen gehört. Sie können zwar auf Ihren Körper zeigen und sagen „das bin ich“, „das ist mein Körper“, aber dieser Körper gehört Ihnen nicht wirklich. Sie haben das Erdelement in Ihrem Körper im wahrsten Sinn des Wortes geliehen. Es ist ein Teil des Erdelements im Universum. Eines Tages müssen Sie es zurückgeben. Wenn Sie einen verwesenden Leichnam betrachten – und sei es auch nur ein kleiner toter Vogel –, dann können Sie anschaulich beobachten, wie das geschieht, zumal wenn der Leichnam auf der Erde liegt. Sie können sehen, wie das Fleisch und die Knochen, die einmal zu dem Körper gehörten, wieder zu Erde werden, wie sie zum Erdelement im Universum, woher sie auch gekommen waren, zurückkehren. Genauso werden Sie selbst eines Tages Ihren Körper an das Erdelement zurückgeben müssen. Deshalb ist es besser, sich nicht an ihn zu klammern. Identifizieren Sie sich nicht mit ihm, indem Sie sagen: „Dieser Körper gehört mir.“ Lassen Sie ihn los. Auf solche Weise reflektieren Sie nacheinander über alle sechs Elemente. Dadurch entwickeln Sie Selbstlosigkeit, und indem Sie das tun, besiegen Sie Dünkel oder Stolz.

 

Gewahrsein oder Achtsamkeit schließlich entwickeln Sie mit Hilfe der ‚Vergegenwärtigung des Atems‘, der anapana-sati. Hier ‚beobachten‘ Sie Ihren Atem, ohne ihn auf irgendeine Art zu beeinflussen. Sie lassen es einfach zu, dass Ihr Geist sich immer gesammelter und stetiger auf den Atem konzentriert. Indem Sie die anapana-sati üben, wächst Ihre Achtsamkeit, und durch die Steigerung von Achtsamkeit überwinden Sie Zerstreutheit. Sie besiegen den rastlosen Geist.

 

Auf diese Weise können Sie mit Hilfe der genannten Meditationsmethoden die fünf wichtigsten kilesas überwinden. So hat auch der Buddha sie überwunden. Verlangen überwand er durch die Entwicklung von innerem Frieden, Abneigung mit Herzensgüte und Erbarmen, Unwissenheit mit Weisheit, Dünkel mit Selbstlosigkeit, Zerstreutheit mit Gewahrsein oder Achtsamkeit. Auf diese Weise besiegte der Buddha kilesa-Mara.

 

Ein Mara ist nun noch zu besiegen. Wie hat der Buddha devaputta-Mara oder ‚Mara, den Sohn eines Gottes‘ bezwungen? Um das zu verstehen, müssen wir noch einmal zur Begebenheit des Mara-vijaya zurückkehren, zu jenem Sieg über Mara, wie ihn die buddhistische Kunst darstellt.

 

Auf den Bildern der Überlieferung sehen wir den Buddha mit geschlossenen oder halb geschlossenen Augen unter dem Bodhibaum sitzen. Mara hat ihn mit seinen Streitkräften und Töchtern umzingelt. Doch der Buddha schenkte Mara gar keine Beachtung. Wir können deshalb sagen, dass der Buddha den devaputta-Mara besiegte, indem er ihn ignorierte.

 

Wenn man im alltäglichen Leben einen Menschen ignoriert, bedeutet das meistens, dass man ihm gegenüber ziemlich negativ eingestellt ist. Dem Buddha war es aber überhaupt nicht möglich, irgend jemandem gegenüber eine negative Haltung einzunehmen, nicht einmal Mara gegenüber. Wie können wir also diesen Sieg auf eine positive Weise ausdrücken? Im Grunde hat der Buddha Mara nicht ignoriert, sondern er hat ihn dadurch bezwungen, dass er ganz er selbst war. Er besiegte Mara, indem er einfach Siddhartha Gautama, der künftige Buddha war. Nach dem mittelalterlichen indischen Kommentator Mallinatha bedeutet jayati ‚besiegen‘, ‚durch die eigenen herausragenden Eigenschaften alles andere übertreffen‘. Es bedeutet, das ‚Höchste‘ zu sein. In diesem Sinn ist der Sieg des Buddha über Mara nicht das Ergebnis eines Kampfes zu Maras Bedingungen, sondern der Buddha hat Mara besiegt, weil er ganz und gar er selbst war. Er hat ihn durch die schiere Überlegenheit seiner eigenen moralischen und spirituellen Eigenschaften bezwungen.

 

Damit hatte der Buddha einen vollständigen Sieg über Mara errungen, und weil dieser Sieg umfassend war, erlangte er Erleuchtung. Man könnte nun glauben, dass es danach nichts mehr für ihn zu tun gab und dass er nun nichts mehr zu überwinden hatte. Im Grunde trifft das auch zu, und dennoch gab es noch ein weiteres Ereignis nach dem Mara-vijaya, eine Begebenheit, die vielleicht sogar der größte Sieg des Buddha ist. Das ist die Episode von Brahmas Bitte, die wir nun noch betrachten wollen.

 

Siddhartha ist nunmehr erleuchtet. Er ist zum Buddha geworden. Als solcher genießt er die Freiheit und das Glück der Erleuchtung und sinnt darüber nach, dass die Wahrheit, die er entdeckt hat, außerordentlich tiefgründig und deshalb für andere nur sehr schwer zu verstehen ist. Angesichts dieser Betrachtungen neigt er dazu, es gar nicht erst zu versuchen, anderen Menschen diese Wahrheit – den Dharma – mitzuteilen. Das wäre einfach viel zu schwierig. Die Wesen, so überlegt er, schwelgen nun einmal so tief in weltlichen Genüssen, dass sie gar nicht fähig wären, den von ihm gefundenen Dharma zu verstehen. Genau in diesem Augenblick nun tritt Brahma-Sahampati auf, der ‚Herr über tausend Welten‘, eine weitere Gestalt aus der buddhistischen Mythologie. Er bittet den Buddha zu bedenken, dass es doch zumindest ein paar Wesen gibt, die verstehen würden. Um ihretwillen, so fleht er den Buddha an, möge er die vom ihm gefundene Wahrheit verkünden. Schließlich stimmt der Buddha zu und sagt: „Geöffnet sind die Tore des Unvergänglichen, für die, welche hören wollen.“

 

Mit dieser Entscheidung hatte der Buddha die Neigung überwunden, seine Erleuchtung für sich zu behalten oder auch nur zu glauben, dass es für ihn möglich wäre, sie für sich zu behalten. So hatte er spirituellen Individualismus überwunden. Der Buddha hatte den Buddha besiegt – und war dadurch erst wirklich zum Buddha geworden. Dies war der letzte und größte seiner Siege. Ganz am Anfang hatte er über die Abhängigkeit von der Gruppe gesiegt, nicht zuletzt auch von der verinnerlichten. Dann hatte er spirituelle Selbstzufriedenheit und spirituellen Ehrgeiz bezwungen. Er hatte die Furcht besiegt. Er hatte die Neigung überwunden, einen Irrtum nicht zugeben zu wollen. Er hat den Sieg über alle vier Maras davongetragen. Zum Schluss triumphierte er über spirituellen Individualismus. Er war auf der ganzen Linie siegreich. Deshalb ist er nicht nur der Buddha, der Erleuchtete, sondern auch der jina, der ‚Sieger‘.

 

Im Westen hat man sich daran gewöhnt, den Titel ‚Buddha‘ zu verwenden. Aber wir sollten nicht vergessen, dass der Buddha in Asien auch allgemein als jina bekannt ist. Die Schüler des Buddha heißen zwar gewöhnlich ‚Buddhisten‘, doch könnte man sie vielleicht genauso gut ‚Jinisten‘ nennen: Schüler des jina, Schüler des Siegers. Der Buddha sagte tatsächlich einmal zu seinen Schülern, sie seien kschatriyas oder Krieger, die für Moral (sila), Meditation (samadhi) und Weisheit (prajna) kämpften. Das heißt, sie kämpfen für ein Leben nach moralischen Grundsätzen, für höhere Bewusstseinszustände und transzendente Weisheit. Dem Buddha zufolge ist das spirituelle Leben ein aktives Leben, das Bemühung erfordert. Man kann sogar sagen, es sei ein kämpferisches Leben. Mara gegenüber muss man in die Offensive gehen. Man sollte nicht warten, bis er kommt und einem auf die Schulter klopft. Angriff ist in diesem Fall die beste Verteidigung, Vorbeugen ist besser als Heilen.

 

Westliche Buddhisten sollten sich deshalb vor einer allzu schwärmerischen Vorstellung vom spirituellen Leben hüten. Bemühen wir uns in der Meditation und auch beim Studium des Dharma (der buddhistischen Lehre) wirklich nach besten Kräften? Arbeiten wir hart genug an uns? Können wir noch richtig spielen? Geht unsere Verpflichtung auf die Drei Juwelen tief genug und sind genügend Aspekte unserer selbst daran beteiligt? Liegt uns die Verbreitung des Dharma wirklich am Herzen? Vielleicht tun wir ja nur so, als seien wir Buddhist oder Buddhistin. Falls das zutrifft, werden wir nicht allzu weit kommen. Wir werden keine wirklichen Fortschritte machen und nicht wahrhaft glücklich sein. Dann sind wir keine echten Buddhisten – und ganz bestimmt keine Jinisten, spirituelle Krieger im guten Sinn.

 

Dabei gibt es heutzutage so viel zu überwinden – in uns selbst nicht weniger als in der Welt. Vieles muss vom ‚goldenen Licht‘ des Dharma verwandelt werden. Das Leben des Buddha erinnert daran, dass jeder von uns die Abhängigkeit von der verinnerlichten Gruppe, spirituelle Selbstzufriedenheit und spirituellen Ehrgeiz überwinden muss. Wir müssen unsere Furcht bezwingen und auch die allzu menschliche Neigung, nicht zugeben zu wollen, dass wir uns geirrt haben. Wir müssen Mara und schließlich unseren spirituellen Individualismus besiegen. Kurz gesagt müssen wir alles überwinden, was der Buddha überwunden hat, um der Welt in ähnlicher Weise zu nützen, wie der Buddha es getan hat.

 

Das ist keineswegs einfach, und wirkliche Buddhisten haben auch nie behauptet, dass es das sei. Wenn wir uns aber wahrhaft als Menschen verstehen, wäre es beschämend, nicht wenigstens zu versuchen, das Schwierige statt des Leichten zu tun. Wir sollten bereit sein, es mit den größten Schwierigkeiten aufzunehmen. Wir sollten in der Tat tiefe Scham empfinden, wenn wir nicht allen Widrigkeiten zum Trotz den Kampf auf uns nähmen. Möglicherweise fühlen wir uns manchmal überfordert. Wir erleben manche Situationen vielleicht so, als müssten wir eine Schneise durch den Urwald schlagen, einen Weg durch das Dickicht des Samsara, den Dschungel der bedingten Existenz. Der Buddha hat das gelegentlich offenbar auch so empfunden. Nach seiner Erleuchtung gab er einigen seiner Schüler das folgende Gleichnis:

 

 

 

Gerade so, ihr Bhikkhus, wie wenn ein Mann, in der Wildnis im Walde wandernd, eine alte Straße erblickte, einen alten Weg, von Menschen früherer Zeit begangen. Und er folgte der Straße, und ihr folgend erblickte er eine alte Stadt, eine alte Residenz, von Menschen früherer Zeit bewohnt, mit Gärten ausgestattet, mit Hainen ausgestattet, mit Teichen ausgestattet, mit Dämmen versehen, voll Anmut.

 

Und der Mann, ihr Bhikkhus, berichtete das dem Könige oder einem hohen Beamten des Königs: „Nimm gütigst Kenntnis, Herr! Ich erblicke, in der Wildnis im Walde wandernd, eine alte Straße, einen alten Weg, von Menschen früherer Zeit begangen. Ich folgte der Straße, und ihr folgend erblickte ich eine alte Stadt, eine alte Residenz, von Menschen früherer Zeit bewohnt, mit Gärten ausgestattet, mit Hainen ausgestattet, mit Teichen ausgestattet, mit Dämmen versehen, voll Anmut. Lasse du, Herr, diese Stadt (wieder) aufbauen!“

 

Und es ließe, ihr Bikkhus, der König oder hohe Beamte des Königs die Stadt (wieder) aufbauen, und es wäre die Stadt in der Folgezeit reich und blühend, wohl bevölkert und dicht gedrängt voll Menschen, zu Wachstum und Gedeihen gekommen: Ganz ebenso, ihr Bikkhus, erblickte ich eine alte Straße, einen alten Weg, von den Allbuddhas früherer Zeit begangen.

 

Und welches war, ihr Bikkhus, die alte Straße, der alte Weg, von den Allbuddhas früherer Zeit begangen? Es war das dieser edle achtgliedrige Pfad.

 

 

 

Dieses Gleichnis veranschaulicht mehrere Dinge. Es zeigt, dass der Buddha ein Pionier war. Es verdeutlicht, dass wir Erleuchtung mit einer wunderbaren, von unzähligen Menschen bewohnten Stadt vergleichen können und dass es einen Weg zu dieser Stadt, einen Weg zur Erleuchtung gibt. Vor allem aber erinnert das Gleichnis daran, dass die Buddha-Lehre wieder verloren gehen kann. Die Drei Juwelen können, ebenso wie andere Werte, verloren gehen. Zum Glück leben wir in einer Zeit und in einem Land, wo man den Dharma, die Lehre des Buddha, noch kennt und üben kann. Noch immer können wir den Weg zu der alten Stadt gehen. Aber der Urwald beginnt bereits zu wuchern. Weniger Menschen leben heute in der Stadt. Manche Stadtviertel sind ziemlich heruntergekommen, und weite Strecken des Weges sind schon wieder zugewachsen.

 

Selbst wenn wir nicht gerade dazu berufen sind, Pioniere von der Art des Buddha zu sein, gibt es doch viel für uns zu tun. Es ist wichtig, das Vordringen des Urwalds zu bekämpfen; dazu sind spirituelle Krieger nötig – nicht nur Buddhisten, sondern Jinisten. Zumindest sollten wir versuchen, das zu besiegen, was der Buddha besiegt hat. Wenn wir nicht bereit sind, die dazu erforderliche Anstrengung auf uns zu nehmen, haben wir die Bedeutung des Buddha-jayanti, des Sieges des Buddha, noch nicht erfasst.

 

Auszug aus: Sangharakshita, Mensch?Gott?Buddha. Leben jenseits von Gegensätzen, do evolution, Essen 1998, S. 64-84

Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von do evolution.